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Argumente gegen den Veganismus

Lara Biehl, 25.01.2024

Löwen essen auch Fleisch

Nicht selten wird der Verzehr von Körperteilen oder Ausscheidungen nicht-menschlicher Tiere damit gerechtfertigt, dass Raubtiere wie Löwen auch Fleisch verzehren. Das Argument gegen den Veganismus lautet wie folgt: Weil Löwen und Menschen in der Lage sind, andere Tiere zu töten, und beide sozusagen zur Gattung der Raubtiere gehören, ist es auch nicht falsch, nicht-menschliche Tiere zu essen. Dahinter verbergen sich jedoch mehrere Denkfehler.

Erster Denkfehler: Löwen sind ein Richtmass für ethisch angemessenes Verhalten

Der erste Denkfehler besteht in der Annahme, dass das Verhalten eines Löwen etwas darüber aussagt, wie sich Menschen verhalten sollten. Wenn wir meinen, dass es in Ordnung ist, Fleisch zu essen, nur weil Löwen (oder andere Raubtiere) das auch tun, dann müssen wir irgendwie davon ausgehen, dass das Verhalten von Löwen ein Massstab für die Beurteilung moralischer Fragen ist. Das ist absurd. Wenn Löwen ein Massstab für ethisch angemessenes Verhalten wären, dann wäre es auch in Ordnung, wenn Menschen ungewollte, körperlich schwache oder ungeliebte Kinder töten oder sogar essen (denn Löwen tun das manchmal) oder Revierkämpfe austragen. Aber Löwen sind - anders als Menschen - keine moralischen Akteure. Menschen sind in der Lage, moralische Prinzipien aufzustellen und über ihre Handlungen zu reflektieren (ein Mensch kann Prinzipien aufstellen und sich fragen, ob eine Handlung richtig, falsch, angemessen oder unangemessen war - ein Löwe kann dies nicht in diesem Umfang). Nur weil Löwen ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen, kann menschliches Verhalten nicht damit gerechtfertigt werden.

Zweiter Denkfehler: Menschen sind Raubtiere

Auch die implizite Annahme, der Mensch sei - wie der Löwe - ein Raubtier, ist schlichtweg falsch. Zwar ist es dem Menschen gelungen, sich die Natur und nicht-menschliche Tiere untertan zu machen, aber das macht ihn nicht automatisch zu einem klassischen Raubtier. Anders als Wölfe oder Löwen gehen wir nicht täglich in die Wildnis, um unserem Abendessen aufzulauern und es bei passender Gelegenheit mit blossen Händen (oder Zähnen) zu erlegen. Die meisten von uns jagen ihre Nahrung auch nicht selbst und pflanzen sie auch nicht eigenhändig an. Ob ich nun eine Karotte kaufe oder ein Stück totes Tier - beides macht mich nicht zum Raubtier.

Dritter Denkfehler: Menschen sind Karnivoren

Löwen sind Karnivoren, Menschen nicht. "Karnivore" ist der Fachbegriff für Tiere, die sich hauptsächlich von Fleisch ernähren. Karnivoren unterscheiden sich von Herbivoren (Pflanzenfressern) anatomisch vor allem dadurch, dass ihr Verdauungstrakt kürzer und auf die Verdauung tierischer Nahrung ausgelegt ist. Ihr Gebiss hat eine Form, die zum Reissen von Beute und nicht zum Malen von Pflanzlichem dient. Menschen hingegen sind Allesfresser, auch Omnivoren genannt. Der Mensch kann tierische Produkte zu sich nehmen, ernährt sich aber zum grössten Teil von pflanzlicher Nahrung. In der Diskussion um den Veganismus wird oft darüber gestritten, ob der Mensch ein Omnivore (Allesfresser) oder ein Herbivore (Pflanzenfresser) ist. Was auch immer davon zutreffen mag - für die Frage, welches Verhalten ethisch angemessen ist, spielt es keine Rolle, denn was der Mensch ganz sicher nicht ist, ist ein Fleischfresser. Löwen sind in der Lage, ihre Beute mit ihren scharfen Zähnen zu zerfleischen und das rohe Fleisch zu verdauen. Der Verdauungsapparat des Menschen würde das nicht zulassen. Was der menschliche Verdauungstrakt aber zulässt, ist eine rein pflanzliche, also herbivore Ernährung. Denn der Mensch kann zwar nicht-menschliche Tiere essen, muss es aber im Gegensatz zum Löwen nicht, um gesund und aktiv zu sein.

Noch eine Anmerkung: Obwohl, wie bereits gezeigt, der Vergleich des Menschen mit anderen nicht-menschlichen Tieren für die Beantwortung ethischer Fragen nicht sinnvoll ist, wäre es eigentlich am naheliegendsten, die menschliche Ernährung mit der Ernährung unseres nächsten Verwandten, des Menschenaffen, zu vergleichen. Die Ernährung der Menschenaffen unterscheidet sich jedoch ziemlich drastisch von der des Löwen, da Menschenaffen sich hauptsächlich von Pflanzen ernähren.

Es ist unnatürlich sich vegan zu ernähren

Mit diesem Argument soll gezeigt werden, dass „Natürlichkeit“ bestimmte Verhaltensweisen rechtfertigen kann. Weil es für den Menschen natürlich ist, Körperteile nicht-menschlicher Tiere zu essen, ist es ihm erlaubt, nicht-menschliche Tiere zu töten und zu nutzen. Gegen dieses Argument lassen sich mehrere Einwände vorbringen:

Naturalistische Irrtümer

Der "Appell an die Natur" ist ein logischer Fehlschluss, der auftritt, wenn jemand behauptet, dass etwas moralisch gut oder akzeptabel ist, weil es natürlich ist, oder dass etwas moralisch schlecht oder inakzeptabel ist, weil es unnatürlich ist. Dieser Trugschluss beruht auf der irrtümlichen Annahme, dass das Natürliche von Natur aus gut oder moralisch überlegen ist, während das Unnatürliche von Natur aus schlecht oder moralisch minderwertig ist. Diese Annahme übersieht jedoch die Komplexität des moralischen Denkens und die Tatsache, dass nicht alles, was in der Natur vorkommt, ethisch wünschenswert ist.

Ein weiterer Irrtum geht auf das Sein-Sollen-Problem des Philosophen David Hume zurück, der den Unterschied zwischen deskriptiven Aussagen darüber, wie die Dinge sind, und normativen Aussagen darüber, wie die Dinge sein sollten, betont. Nur weil etwas von Natur aus so ist, gibt es noch keine moralische Rechtfertigung dafür, warum es so sein sollte. Die Aussage: "Die Menschen waren in der Geschichte immer kompetitiv und aggressiv, also sind Konkurrenzkampf und Aggression moralisch gerechtfertigt" fällt z.B. unter den Sein-Sollen-Trugschluss. In diesem Beispiel wird aus der faktischen Aussage, dass die Menschen in der Geschichte immer kompetitiv und aggressiv waren, die moralische Aussage abgeleitet, dass kompetitives und aggressives Verhalten moralisch gerechtfertigt ist. Der Trugschluss besteht in der Annahme, dass allein aufgrund eines bestimmten Sachverhalts (der "Ist"- oder Tatsachenbehauptung) automatisch eine moralische Rechtfertigung (der "Soll"- oder Moralbehauptung) besteht. Dieses Argument übersieht jedoch die Notwendigkeit einer zusätzlichen ethischen Reflexion und liefert keine stichhaltige Begründung für den erhobenen moralischen Anspruch.

Ebenso ist die Behauptung, es sei moralisch richtig, Fleisch zu essen, nur weil es für den Menschen "natürlich" ist, falsch. Aus der Tatsache, dass Menschen schon immer Fleisch gegessen haben oder dass Menschen in der Lage sind, Fleisch zu verdauen, kann nicht geschlossen werden, dass es moralisch zulässig ist, Fleisch zu essen.

Wenn Natürlichkeit vorgibt, was moralisch gut ist, dann müssten wir viele unserer alltäglichen Handlungen unterlassen

Wer Natürlichkeit zum Massstab moralischen Handelns macht, steht vor einem Dilemma. Zunächst muss geklärt werden, was mit dem Begriff „natürlich“ gemeint ist. Eine Möglichkeit, Natürlichkeit zu definieren, besteht darin, dass etwas dann natürlich ist, wenn es der Natur möglichst nahe kommt oder durch natürliche Prozesse entstanden ist. Das Gegenteil von „natürlich“ wäre demnach „künstlich“, denn was künstlich ist, ist nicht durch natürliche Prozesse entstanden. Medikamente, Verhütungsmittel, Make-up, Stereoide, künstliche Befruchtung, synthetische Aromastoffe, Konservierungsmittel usw. sind allesamt Dinge, die nicht einfach so in der Natur vorkommen, sondern (meist) künstlich hergestellt wurden. Worin besteht nun aber das Dilemma, in dem sich der Verfechter dieses Arguments befindet?

Die eine Seite des Dilemmas besteht darin, dass die ethische Implikation der Aussage "Was natürlich ist, ist gut, und was unnatürlich ist, ist schlecht" auch die Unterlassung anderer unnatürlicher Verhaltensweisen erfordern würde. Wenn wir unser Leben so führen, dass es so weit wie möglich im Einklang mit natürlichen Prozessen steht, müssen wir den Gebrauch von Autos, Computern, Antibiotika, Antibabypillen und vielem mehr in Frage stellen. Man könnte einwenden, dass Natürlichkeit nur dann wichtig ist, wenn es um Ernährungsfragen geht (ob man so konsequent argumentieren kann, wage ich zu bezweifeln, aber ich lasse es mal dahingestellt), aber selbst dann ist das Argument nicht haltbar.

Es gibt noch ein weiteres Problem, nämlich die zweite Seite des Dilemmas, die uns zurück zur Tierwelt führt: Selbst wenn Natürlichkeit für die Richtigkeit unserer Ernährungsweise ausschlaggebend wäre, dürften wir wohl kaum nicht-menschliche Tiere oder deren Sekrete verzehren, denn die Nutzung und Tötung nicht-menschlicher Tiere ist unnatürlich. Massentierhaltung ist unnatürlich. Konventionelle Tierhaltung widerspricht der Natur aller nicht-menschlichen Tiere und ist daher unnatürlich. Weibliche Kühe werden permanent künstlich befruchtet und ihr Erbgut so manipuliert, dass sie immer mehr Leistung erbringen. Kühe haben eine Lebenserwartung von 20 bis 30 Jahren, werden aber in der Milchindustrie selten älter als fünf Jahre. Ein Masthuhn wird im Alter von 38 Tagen geschlachtet, obwohl es bis zu 10 Jahre alt werden könnte. Das Fleisch von Nutztieren wird nach der Schlachtung nicht sofort verzehrt, sondern gelagert, konserviert und verpackt. Milch wird vor dem Verkauf gefiltert und stark erhitzt, damit der Mensch sie besser verdauen und lagern kann - was an sich unnatürlich ist, da Kuhmilch von Natur aus für das Kalb der Kuh und nicht für den menschlichen Verzehr bestimmt ist.

Natürlichkeit als moralisch relevantes Kriterium für die Vergabe von Rechten anzunehmen, ist keine befriedigende Option. Im Gegenteil: Das Argument widerlegt sich sozusagen selbst.

Es ist in Ordnung nicht-menschliche Tiere und ihre Sekrete zu essen, weil Menschen das schon immer so getan haben

Ein gängiges potentielles Gegenargument zum Veganismus ist die Behauptung, dass Menschen schon immer Fleisch gegessen haben und es daher moralisch in Ordnung ist, dies auch weiterhin zu tun. Der Verweis auf die Menschheitsgeschichte zur Beurteilung moralischer Fragen erweist sich jedoch als problematisch, denn es lässt sich feststellen, dass Menschen in der Vergangenheit oft Dinge getan oder Traditionen gepflegt haben, die später als unzulässig, grausam oder falsch angesehen wurden. Es gibt unzählige Beispiele, die die gleiche Argumentationsform haben - "x wurde immer so gemacht, also ist x moralisch gerechtfertigt" - wie die Aussage im Titel, die wir aber nicht akzeptieren sollten. Eine rechtsextreme Person könnte z.B. sagen: "Menschen haben schon immer Minderheiten unterdrückt, also ist es völlig in Ordnung, wenn ich das tue" Ein Sexist könnte sagen: "Frauen wurden schon immer als minderwertig angesehen, also sollten wir das auch heute noch so halten." Wir lehnen diese Aussagen ab, weil gerade der Verweis auf die Menschheitsgeschichte eine solche Überzeugung nicht rechtfertigen kann.

Indem wir die Fehler in diesen Beispielen anerkennen, erkennen wir an, dass die blosse Tatsache, dass etwas in der Geschichte praktiziert wurde, es nicht automatisch moralisch akzeptabel oder wünschenswert macht. Wir glauben, dass ethische Urteile auf den Prinzipien der Gerechtigkeit, der Gleichheit und der Achtung der Rechte und des Wohlergehens aller Menschen beruhen sollten und nicht auf historischen Verhaltensmustern. Wir sollten aus der Geschichte lernen und nicht pauschal die Aufrechterhaltung schädlicher Ideologien oder Handlungen befürworten.

*Bemerkung zum legitimen Gebrauch von Beispielen, die von der Unterdrückung gewisser Menschen handeln: Die Beispiele behaupten nicht, dass Rassismus und Sexismus nicht mehr existent sind und sie haben auch nicht zum Ziele Menschen, die immer noch tagtäglich Opfer von rassistischem, sexistischem oder anderweitigem unterdrückerischem Verhalten sind, abzuwerten oder auszublenden. Der Fokus liegt auf der Aussage, dass wir nicht in der Lage sind, die Ausgrenzung gewisser Menschen oder nicht-menschlichen Tieren aus der Sphäre moralisch berücksichtigungswürdiger Wesen zu rechtfertigen, in dem wir auf die Menschheitsgeschichte oder Traditionen referrieren. Versuche, Konzepte wie Rassismus, Sexismus, Ableismus, Ageismus und Sepziesismus durch historische Zustände zu begründen, müssen abgelehnt und verurteilt werden, da sie willkürlich sind und weder eine plausible noch kohärente argumentative Basis schaffen. Der Kampf für die Rechte von nicht-menschlichen Tieren und ihre respektvolle Behandlung schliesst auch den Kampf für die Rechte von Menschen und die Ablehnung von systematischer Unterdrückung aller ein.

Man könnte einwenden, dass gerade der Blick in die Geschichte zeigt, dass es falsch ist, Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Hautfarbe zu diskriminieren oder Frauen als minderwertig zu betrachten. Das ist richtig, aber wir begründen moralische Legitimität in der Regel nicht, indem wir direkt darauf verweisen, dass es sie früher nicht gab. Vielmehr berufen wir uns auf Gründe, warum wir Minderheiten nicht unterdrücken sollten, oder auf universelle, rational nachvollziehbare Werte, die bestimmte Handlungen als lobenswert oder verwerflich bewerten. Auf die Frage, warum das Frauenwahlrecht gut ist, würden wir wahrscheinlich antworten: „Weil Frauen die gleichen kognitiven Fähigkeiten haben wie Männer und es daher keinen Grund gibt, sie aus der Gruppe der Wahlberechtigten auszuschliessen“ oder „Weil Menschen nicht nach ihrem Geschlecht beurteilt werden sollten“. Es stellt sich nun die Frage, warum wir nicht auch bei nicht-menschlichen Tieren nach Kriterien fragen, die für die Zuschreibung moralischer Rechte relevant sind. Die meisten Tiere sind empfindungsfähige Lebewesen, die in der Lage sind, intelligent und kreativ zu handeln, soziale Beziehungen zu anderen Lebewesen einzugehen und aufrechtzuerhalten und zu leiden, wenn ihnen etwas Schlimmes widerfährt.

Die Tatsache, dass Menschen schon immer bestimmte Verhaltensweisen an den Tag gelegt haben oder bestimmten Traditionen gefolgt sind, bedeutet nicht, dass diese Verhaltensweisen oder Traditionen in Ordnung waren oder sind. Die Nutzung nicht-menschlicher Tiere für unsere Zwecke muss anders begründet werden. Anstatt ihnen Rechte abzusprechen, weil wir dies schon immer getan haben, sollten wir uns fragen, ob nicht-menschliche Tiere nicht Eigenschaften oder Fähigkeiten besitzen, die sie zu moralisch achtenswerten Wesen machen.

Moral ist subjektiv. Ich kann essen, was ich will

Es stimmt, dass ethische Fragen - im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen oder mathematischen Fragen - weder empirisch exakt getestet werden können, noch dass es eine einhellig akzeptierte, strukturierte Wahrheit gibt. Seit vielen Jahrhunderten diskutieren Philosoph*innen darüber, welche ethische Theorie die sinnvollste bzw. konsistenteste ist - und bis heute existiert darüber kein Konsens. Das bedeutet aber nicht, dass Ethik subjektiv ist. Ethik wird in unserer Gesellschaft nicht als subjektives Anliegen verstanden, da die meisten Menschen objektive Ansprüche an ihre eigenen ethischen Überzeugungen stellen.

Die Allgemeingültigkeit moralischer Werte zeigt sich zum Beispiel, wenn wir jemandem einen Vorwurf machen. Stell dir vor, eine Freundin verspricht dir, dir beim Umzug zu helfen. Am Tag des Umzugs ruft sie dich an und sagt dir, dass sie die Grippe hat und dir nicht helfen kann. Stell dir weiter vor, du findest irgendwie heraus, dass deine Freundin gar nicht an Grippe erkrankt ist, sondern nur eine Ausrede erfunden hat, um sich vor der unangenehmen Arbeit zu drücken. Jeder, der kein moralischer Skeptiker ist, würde sich zu Recht in der Position fühlen, diese Freundin für ihr Verhalten zu kritisieren. Warum tun wir das? Weil wir glauben, dass es immer und objektiv falsch ist, in einer solchen Situation zu lügen oder ein Versprechen ohne triftigen Grund zu brechen. Wenn wir glauben, dass Moral nur eine Frage des Geschmacks oder des persönlichen Gefühls ist, dann haben wir keine Grundlage, andere Menschen für ihr Verhalten zu tadeln, weil ihr - in unseren Augen schlechtes - Verhalten aus ihrer Sicht vielleicht gar nicht so schlecht ist.

Es ist daher kontraintuitiv, Moral als reine Geschmackssache zu behandeln. Eine mögliche Antwort auf dieses Beispiel wäre, dass Moral zwar in gewisser Weise objektiv zu sein scheint, dies aber nur innerhalb bestimmter Kulturen gilt. In anderen Ländern und Kulturen können andere moralische Regeln und Auffassungen vorherrschen. Moral ist also relativ. Der moralische Relativismus (MR) ist jedoch seinerseits mit Schwierigkeiten behaftet:

  • Erste Schwierigkeit: Wenn der MR wahr ist, dann haben alle moralischen Reformer:innen einen systematischen Fehler gemacht. Die Menschen, die beispielsweise gegen die Institution der Sklaverei gekämpft haben, hätten alle gegen den bestehenden Moralkodex, nämlich, dass Sklaverei zulässig ist, verstossen. Die Reformer*innen hätten somit ein fehlgeleitetes Urteil entwickelt bzw. sich irrational verhalten.
  • Zweite Schwierigkeit: Wenn der MR wahr ist, ist keine Evaluation über verschiedene Kulturen hinweg möglich. Wenn in einem anderen Land mit anderem Wertesystem Menschenrechte verletzt werden, z.B. das Steinigen von Frauen, das Beschneiden von Mädchen, systemischer Rassismus oder die Verfolgung von Minderheiten, sind wir nicht in der Lage dieses Verhalten zu kritisieren.
  • Dritte Schwierigkeit: Wenn MR wahr ist, dann ist transkulturelle und intrakulturelle Kritik nicht mehr möglich. Transkulturelle Kritik ist nicht möglich, weil wir z.B. nicht sagen können, dass systemischer Rassismus in einer anderen Kultur schlecht ist. Das ist kontraintuitiv, weil wir es normalerweise für sinnvoll halten, ethische Wertesysteme anderer Länder und Kulturen zu bewerten und gegebenenfalls zu kritisieren. Intrakulturelle Kritik ist nicht mehr möglich, weil wir nicht behaupten können, dass die Gesellschaft heute besser ist als früher, nur weil es früher andere Vorstellungen von richtig und falsch gab (d.h. wir können z.B. nicht kritisieren, dass Homosexualität früher in unserem Land verachtet und bestraft wurde). Im Gegensatz zu dieser Auffassung ist es jedoch sinnvoll, die moralischen Werte der eigenen Gesellschaft in der Vergangenheit zu kritisieren und mit den heutigen Werten zu vergleichen.

Die Ethik ist zwar kein Gebiet, auf dem sich eine einzige richtige Auffassung so klar herauskristallisieren lässt wie in der Mathematik - das hat aber nicht zur Folge, dass es nicht eine prägende oder richtungsweisende Tendenz zu bestimmten Polen geben kann, die als richtig oder falsch gelten und dann als objektiv anerkannt werden. Damit ist nicht gesagt, dass Veganismus objektiv richtig ist, sondern nur, dass Ethik nicht subjektiv ist. Da Veganer*innen das Leiden der Tiere in den Mittelpunkt stellen und es für falsch halten, empfindungsfähige Lebewesen als Eigentum zu behandeln, erheben sie auch einen objektiven Anspruch auf diese Überzeugungen.

Nicht-menschliche Tiere sind dafür gemacht worden, von Menschen gegessen zu werden

Wer davon ausgeht, dass der Sinn der Existenz nicht-menschlicher Tiere darin besteht, von Menschen gegessen oder genutzt zu werden, setzt bereits voraus, dass es in der Welt etwas gibt, das über Sinn, Zweck oder Schicksal entscheidet (oder entschieden hat). Wenn man auf diese Weise gegen den Veganismus zu argumentieren versucht, müsste man zunächst über die Vorwegnahme bestimmter metaphysischer Überzeugungen Auskunft geben. Selbst wenn diese Annahme z.B. auf die Existenz Gottes und seine Konstruktion der Welt und ihrer Hierarchien zurückgeführt wird, gibt es überzeugende wissenschaftliche Daten und Theorien, die das Gegenteil behaupten.

Die wichtigste Theorie, die dieser Behauptung widerspricht, ist die Evolutionstheorie. Charles Darwin, der Begründer der Evolutionstheorie, und viele andere zeitgenössische Evolutionsbiologen halten die These von der Kontinuität zwischen nicht-menschlichen Tieren und dem Menschen für wahr. Grob zusammengefasst geht die Evolutionstheorie davon aus, dass alle Lebewesen von gemeinsamen Vorfahren abstammen, die sich dann - im Laufe von Jahrmillionen - unterschiedlich entwickelt bzw. in verschiedene Arten differenziert haben. Die Evolutionstheorie ist in der Wissenschaft weitgehend akzeptiert, weil sie am plausibelsten erklären kann, warum nicht-menschliche Tiere, vor allem Säugetiere, einen dem Menschen nahezu analogen anatomischen Bau aufweisen. Die Behauptung, dass die Existenz der Spezies Mensch auf eine gemeinsame Abstammung mit vielen Tieren zurückzuführen ist, widerspricht somit der religiösen Behauptung, dass der Mensch die „Krone der Schöpfung“ sei, da nach der Implikation von Darwins Theorie die Entstehung des Menschen nicht durch ein Wunder, sondern eben durch die kontinuierliche Entwicklung der Arten erfolgte.1 Das bedeutet aber auch, dass es viele Arten gibt, die schon existierten, bevor sich der Mensch in seiner heutigen Form entwickelt hat. Der Homo Sapiens ist in der Tat eine recht junge Spezies - und das macht die Plausibilität des Gegenarguments noch unwahrscheinlicher, denn es kann einfach nicht sein, dass Tiere für uns Menschen „gemacht“ wurden.

Fleisch war essenziell für die menschliche Evolution

Wie sich der Mensch zu einem rationalen, bewussten und sprachfähigen Wesen entwickeln konnte, ist eine in der Wissenschaft viel diskutierte Frage. Forscher*innen gehen davon aus, dass der Zusammenhang zwischen diesen bemerkenswerten Fähigkeiten des Menschen im überdurchschnittlich grossen Gehirn - im Gegensatz zu seinem Körperbau - liegt. Es stellt sich zudem die Frage, welche Faktoren dazu geführt haben, dass sich aus den Hominini, einem Tribus aus der Familie der Menschenaffen, die Gattung Homo (zu der neben uns Menschen auch der ausgestorbene Neandertaler gehört) entwickelt hat.

Ein populärer Erklärungsansatz ist der Zusammenhang zwischen Gehirnwachstum und Fleischkonsum. Die Vorfahren der Hominini lebten zunächst in den feuchten Wäldern Afrikas. In den letzten drei bis vier Millionen Jahren wanderten sie in die Grasländer ab, was einige Auswirkungen auf Verhalten und Ernährung hatte. Verdauliche Pflanzennahrung war in der neuen, trockeneren Umgebung weniger leicht verfügbar als in den Feuchtwäldern, dafür lebten in den Grasländern eine Vielzahl von Weidetieren. Die Hominini waren gezwungen, ihre Ernährung zumindest teilweise umzustellen.2

Carel van Schaik, ein Anthropologe der Universität Zürich fasst die Hypothese in folgenden Worten zusammen: „Der Mensch ist wegen seiner Ernährung – und der Nahrungsbeschaffung – so unglaublich schlau geworden.“3

Was bedeutet das nun? Zusammengefasst lautet die These, dass ein grösseres Gehirn mehr Energie benötigt und diese Energie nur durch den Verzehr von energiereicherem Fleisch gewährleistet werden konnte (Früchte sind keine besonders guten Energielieferanten). Es wird vermutet, dass die Hominini nach der Umsiedlung in weniger feuchte Gebiete zunächst Kadaverreste verzehrten und dann mit der Zeit zur Jagd übergingen. Der erhöhte Fleischkonsum ermöglichte eine bessere Energieversorgung des Gehirns unserer Vorfahren, was wiederum zu physiologischen und metabolischen Anpassungen führte4 (so z.B. kranio-dentale Veränderungen, da weniger Wert auf das Knirschen und mehr auf das Beissen und Reissen von Tierfleisch gelegt wurde, so wie die Verkleinerung des Magen-Darm-Traktes) und zu einer gesteigerten Fähigkeit zu intelligentem Handeln.5

Bevor ich näher darauf eingehe, ob diese Theorie, wenn sie denn stimmt, ethische Implikationen für unsere heutige Lebensweise hat, werde ich zeigen, dass diese These - so gern und oft sie auch in den Medien zitiert wird - im wissenschaftlichen Diskurs nicht von allen als plausibel angesehen wird.

Eine Forschungsgruppe um Karen Hardy und Jennie Brand-Miller hat kürzlich einen wissenschaftlichen Artikel veröffentlicht, der die Gegenthese aufstellt, dass Fleischkonsum zwar wichtig, aber nicht ausreichend für die Evolution des Homo Sapiens war. Die Forscher*innen sind davon überzeugt, dass die neu entwickelte Fähigkeit, Nahrung zu kochen, und die damit einhergehende vermehrte Aufnahme von Stärke - einem nur in Pflanzen vorkommenden Speicherkohlenhydrat - für die Evolution des Homo Sapiens von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Ihre Hauptthese ist, dass energiereiche Stärke (d.h. gekochte Stärke) unerlässlich war, um den erhöhten Stoffwechselbedarf des vergrösserten Gehirns zu decken; Stärke wird erst durch das Kochen energiereich, und die Verdauung dieser Art von Stärke förderte die Zunahme der Hirngrösse (sie glauben, mit diesem Ansatz auch die Abnahme der Darmgrösse erklären zu können, da faserige Pflanzen allmählich durch energieeffizientere pflanzliche Nahrung ersetzt wurden).

Die Forscherinnen und Forscher gehen davon aus, dass pflanzliche Nahrungsmittel mit hohem Stärkegehalt ein reichhaltiger, zuverlässiger und wichtiger Bestandteil der Ernährung waren und im Vergleich zum Fleischverzehr einige Überlebensvorteile boten:

  • Der Energieaufwand für die Gewinnung von Pflanzen (Sammeln) war möglicherweise weitaus geringer als derjenige, der betrieben werden musste, um an Fleisch zu gelangen (Jagen)

Pflanzliche Energiequellen waren zuverlässiger als tierische, da sie häufiger vorkamen und in nördlichen Gebieten auch als Winterressource gebraucht werden konnten.

  • Der Konsum von energiereicher Stärke ermöglichte eine erhöhte aerobe Kapazität und förderte die Reproduktion; das heisst, pflanzliche Stärke war wahrscheinlich auch ein nicht zu unterschätzender Energielieferant für die Jagd, die mit beträchtlicher körperlicher Leistung einherging.6 Hardy geht davon aus, dass wenn die Hominin nicht genügend Kohlenhydrate zu sich genommen hätten, diese auf andere Weise Glukose generieren hätten müssen. Die Glykosegenese aus Nichtkohlenhydratquellen hätte aber eine massive Energieaufwendung bedeutet, was die Effizienz bei der Jagd, die kognitiven Fähigkeiten und die Fortpflanzungsraten der Hominin beeinträchtigen hätte können.7 Viele lebenswichtige Nährstoffe wie Ballaststoffe, einige mehrfach ungesättigte Fettsäuren, bestimmte Mineralien und Vitamine können nur aus Pflanzen und nicht aus fleischlicher Nahrung gewonnen werden.8

Fazit: Der Konsum von Fleisch war wahrscheinlich wichtig für die Entwicklung der Gattung der Homo. Wie hoch der Stellenwert vom Nahrungsmittel Fleisch tatsächlich war, ist jedoch umstritten.

Ich bin keine Wissenschaftlerin und kann daher keine seriöse Bewertung dieser Ansätze liefern. Mein Ziel war es auch nur zu zeigen, dass die Behauptung, Fleisch sei kausal für die Reifung des menschlichen Gehirns verantwortlich, keine Tatsache, sondern eine Spekulation ist (so wie auch über die kausale Rolle von Kohlenhydraten nur spekuliert werden kann).

Viel wichtiger ist jedoch, dass es keine Rolle spielt, welcher Ansatz der richtige ist, solange nicht der Beweis erbracht wird, dass der Verzehr von Fleisch heutzutage notwendig oder die einzig mögliche Form der Ernährung ist, die den Bedürfnissen unseres Körpers entspricht. Dieser Beweis ist bisher nicht erbracht worden. Im Gegenteil: Immer mehr Studien innerhalb der Ernährungs- und Gesundheitswissenschaften stellen einen Zusammenhang zwischen dem Konsum tierischer Produkte (insbesondere Fleisch) und dem Auftreten bestimmter Krankheiten (z.B. Krebs, Adipositas, Herz-Kreislauf-Erkrankungen) her und betonen, dass eine vegane Ernährung einen positiven Effekt in Bezug auf die genannten Krankheiten hat bzw. diesen sogar vorbeugen kann.[^8]

Wenn nicht nachgewiesen werden kann, dass eine (bewusste) vegane Ernährung gesundheitsschädlich ist, spielt es aus ethischer Sicht auch keine Rolle, was unseren Vorfahren vor 2 Millionen Jahren geholfen hat, sich langsam zur Gattung Homo zu entwickeln.

Veganer*innen sind für die Abholzung des Regenwaldes verantwortlich

Es ist richtig, dass der grossflächige Anbau von Soja zur Abholzung des Regenwaldes und zu erheblichen Umweltbelastungen führt. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass das Soja, das für die Herstellung von veganen Produkten verwendet wird, nicht der Hauptgrund dafür ist.

Der weitaus grösste Teil des weltweit produzierten Sojamehls wird als Tierfutter verwendet. In der Schweiz werden beispielsweise 14% des Rohproteins im Inland produziert, der Rest wird importiert. Von diesen Importen machen Sojabohnen 68% aus, wobei Brasilien 72,1% des importierten Sojas liefert. Der hohe Proteingehalt und das ausgewogene Verhältnis der Aminosäuren machen Soja zu einer idealen Proteinquelle für Nutztiere.9

Soja-Grafik

In einer Studie der ETH Zürich werteten Prof. Dr. Michael Siegrist und Dr. Christina Hartmann eine Umfrage mit 5586 Teilnehmenden aus der Deutsch- und Westschweiz zu Fragen der Umweltverträglichkeit von Fleisch aus. Die Studie ergab, dass die Befragten die negativen Umweltauswirkungen von Fleischersatzprodukten auf Sojabasis fälschlicherweise ähnlich hoch einschätzen wie die von konventionell erzeugtem Fleisch. In ihrer Schlussfolgerung schreiben die Autoren:

Ein eher überraschendes Ergebnis aus der Studie war, dass die Wahrnehmung der Umweltauswirkungen von Fleischersatzstoffen auf Sojabasis durch die Teilnehmer gleich bewertet wurde, wie diejenigen von konventionell erzeugtem Fleisch. Eine mögliche Erklärung für diese verzerrte Wahrnehmung könnte sein, dass die Sojaproduktion eine Hauptursache für die Entwaldung des Regenwaldes in Brasilien ist (Gollnow & Lakes, 2014).10 Daher liegt es nahe, dass die Konsumenten alle Sojaprodukte, ohne zwischen Soja als Lebensmittel und Soja als Futtermittel zu unterscheiden, mit negativen Umweltauswirkungen in Verbindung bringen. Dies ist eine verzerrte Vorstellung, da Soja, das zur Fütterung von Tieren für die Fleischproduktion verwendet wird, eine grosse Umweltbelastung verursacht, dies aber bei Soja, das als pflanzliches Eiweiss für den menschlichen Verzehr verarbeitet wird, nicht der Fall ist.11

Michael Siegrist und Christina Hartmann (übersetzt aus dem Englischen)

Der Schluss aus diesen Erkenntnissen lässt sich unter zwei Punkten zusammenfassen: 1.) Die Sojaproduktion ist mitunter ein Hauptgrund für die Abholzung des Regenwaldes. 2.) Die mit Abstand grösste Nachfrage an Soja, die mitverantwortlich für die Abholzung des Regenwaldes ist, stellt die Nutztierindustrie.

Das hat nicht nur Folgen für die Umwelt, sondern auch für die Menschen: Menschen, die in Gebieten leben, in denen Soja angebaut wird, werden aus ihren Dörfern vertrieben, damit Unternehmen Soja anbauen können. Zudem werden Pestizide eingesetzt, um die Sojabohnen möglichst verlustfrei zu ernten, was wiederum die Umwelt stark belastet. Ausserdem braucht es viele pflanzliche Ressourcen, um zum Beispiel ein Rind zu füttern, das später geschlachtet wird. Stattdessen hätte das Getreide direkt vom Menschen verzehrt werden können. Hinzu kommen die immensen Wassermengen, die für die Viehzucht benötigt werden, während Wasser selbst immer knapper wird. Wer also aus dem Verzehr von Soja ein ethisch verwerfliches Verhalten ableitet und den Veganismus ablehnt, muss nach seiner eigenen Logik entweder ganz auf den Verzehr von Fleisch verzichten oder ihn auf ein Minimum reduzieren.12 Nur eine geringe Menge Soja wird zu Produkten wie Tofu, Sojamilch oder Fleischersatzprodukten verarbeitet und dieses Soja stammt - zumindest in der Schweiz - nicht aus Brasilien. Das Soja, das als Basis für die zum menschlichen Verzehr verarbeiteten Fleischersatzprodukte dient, wird entweder in der Schweiz produziert oder aus dem europäischen Raum importiert.13

Eine vegane Ernährung führt nicht automatisch zu einer leidfreien Ernährung. Auch vegane Produkte können unter menschenrechtsverletzenden Bedingungen hergestellt werden oder besonders umweltschädlich sein. Deshalb ist es wichtig, dass wir nicht nur darauf achten, ob ein Produkt vegan ist oder nicht, sondern auch - so gut wir können - darauf, ob die Arbeiterinnen und Arbeiter unter fairen Bedingungen arbeiten und einen gerechten Lohn erhalten. Kakao zum Beispiel, der auch in vielen veganen Schokoladen enthalten ist, wird oft durch Kinderarbeit gewonnen und auch hier ist es wichtig, auf Alternativen auszuweichen, die die Rechte der Menschen einbeziehen.

Ich esse nur Bio! Das ist artgerecht und tierfreundlich

Grasende Kühe, verspielte Kälber und freilaufende Hühner - so stellen wir uns gerne die Tierhaltung vor, vor allem die ökologische. Aber entspricht das wirklich der Realität? Und selbst wenn, stellt sich die Frage, ob wir Tiere nutzen und töten dürfen. Entgegen der landläufigen Meinung leben Tiere auf Biobetrieben nicht in einer Idylle. Zwar unterliegt die Biotierhaltung strengeren Richtlinien als die konventionelle, aber ob Bio deshalb ethisch ist, ist eine andere Frage.

Eine Grundvoraussetzung für alle Biobetriebe in der Schweiz ist die Haltung nach den RAUS-Anforderungen (regelmässiger Auslauf im Freien).14 Biobetriebe bieten den Nutztieren zwar mehr Platz, die Mindestanforderungen sind aber immer noch relativ niedrig. Wo ein Schwein in der konventionellen Haltung 0.9m² Auslauf hat, sind es bei Bio-Suisse 1.65m² (inkl. Auslauf).15

Es ist auch ein Trugschluss, Bio-Haltung automatisch mit Weidehaltung in Verbindung zu bringen. Zwar ist die Weidepflicht eine Besonderheit der ökologischen Tierhaltung, sie ist aber exklusiv - als Pflicht an sich - für die Rinder- und Kuhhaltung vorgeschrieben. Das bedeutet, dass weder Schweine, Hühner, Ziegen, Kaninchen noch Schafe ein Recht auf Weidegang haben. Es muss lediglich sichergestellt sein, dass die Tiere Zugang zu einem Auslauf haben. Dies hat zur Folge, dass immer noch sehr viele Tiere in einem Stall gehalten werden. In der Legehennenhaltung sind beispielsweise maximal zwei Stalleinheiten auf einem Biobetrieb erlaubt. Pro Stalleinheit sind wiederum maximal 2‘000 Legehennen oder 4‘000 Aufzuchthennen erlaubt. Das bedeutet, dass auch Bio-Eier oder Bio-Poulet, die in einem normalen Supermarkt gekauft werden, mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einem Stall mit 2'000 oder 4'000 Hühnern stammen.16

Nicht nur die Flächenfrage ist entscheidend. Auch der Biomarkt steht unter Profitdruck. Auch Bio-Tiere sind nach wie vor nur Mittel zum Zweck: Sie werden gentechnisch verändert, um mehr Leistung zu bringen, und entsorgt und ersetzt, sobald die Leistung nachzulassen droht. Auch in der Bio-Haltung werden Kälber ihrer Mutter nach drei Monaten entrissen (bei Schafen und Ziegen sind es 35 Tage und bei Schweinen 40 Tage).17 Auch Biotiere werden auf Leistung gezüchtet und geschlachtet, sobald sie diese nicht mehr erbringen können (z.B. wird ein Huhn nach 81 Tagen geschlachtet, obwohl es eine Lebenserwartung von bis zu 10 Jahren hat).18 Männliche Küken dürfen auch unter Bio-Labels am ersten Lebenstag getötet ( bzw. vergast oder in anderen Ländern geschreddert) werden, da auch sie ein unerwünschtes Nebenprodukt der Eierindustrie sind. Zudem ist die Schlachtung der Tiere nicht durch das Bio-Label geschützt und viele Bio-Tiere, deren Fleisch über den Grossverteiler verkauft wird, landen im gleichen Schlachthof wie konventionelle Tiere.19

Antispeziesist*innen fordern grundlegende Rechte bzw. eine gerechte Berücksichtigung der Interessen oder Präferenzen von Tieren. Ein grundlegendes moralisches Recht zu haben - wie zum Beispiel das Recht auf Unversehrtheit oder das Recht, nicht zum Nutzen anderer getötet zu werden - bedeutet, dass es falsch ist, jemandem dieses Recht zu nehmen, selbst wenn er oder sie so artgerecht wie möglich gehalten wurde. Rechte sind ein Mittel, um die Interessen anderer zu schützen, und sie dürfen, um es noch einmal zu betonen, auch dann nicht verletzt werden, wenn wir von ihrer Verletzung profitieren. Der Verweis auf den ökologischen Landbau reicht nicht aus, um zu erklären, warum wir Tiere als unser Eigentum nutzen und sie züchten, mästen, melken oder schlachten dürfen.

Selbst wenn man garantieren könnte, dass jedes Tier auf einer Weide lebt und dann irgendwie getötet wird, ohne dass das Tier es merkt, würden wir seine Rechte verletzen.

[^8] McCarty, M., Vegan Proteins May Reduce Risk of Cancer, Obesity, and Cardiovascular Disease by Promoting Increased Glucagon Activity, in: Medical Hypotheses, Bd. 53, Nr. 6, 1999, S. 459–485., Benatar, J., Stewart, R., Cardiometabolic Risk Factors and Plasma Fatty Acids in Vegans – Results of an Observational Study, in: Heart and Lung Circulation, Bd. 26, Nr. 2, 2007, S. 344.


  1. Kutschera, Ulrich, Evolutionsbiologie, Ursprung und Stammesentwicklung der Organismen, Stuttgart 2001.
  2. Mann, Neil J., A Brief History of Meat in the Human Diet and Current Health Implications, in: Meat Science, Bd. 144, 2018, S. 169 – 179.
  3. SRF, https://www.srf.ch/kultur/wissen/die-lust-auf-fleisch-machte-den-menschen-intelligent
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