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Argumente gegen den Veganismus

Lara Biehl, 21.10.2022

Löwen essen auch Fleisch

Nicht selten wird der Konsum von Körperteilen oder Ausscheidungen nicht-menschlicher Tiere damit gerechtfertigt, dass Raubtiere wie Löwen ebenfalls Fleisch verspeisen. Das Argument gegen den Veganismus lautet folgendermassen: Weil Löwen und Menschen dazu fähig sind, andere Tiere zu töten und sie sozusagen beide zur Gattung der Räuber gehören, ist es auch nicht falsch, nicht-menschliche Tiere zu konsumieren. Dahinter stecken aber mehrere Denkfehler.

Erster Denkfehler: Löwen sind ein Richtmass für ethisch angemessenes Verhalten

Der erste Denkfehler besteht darin anzunehmen, dass das Verhalten eines Löwen etwas darüber aussagt, wie der Mensch sich verhalten soll. Wenn wir meinen, dass es in Ordnung ist, Fleisch zu essen, nur weil Löwen (oder andere Raubtiere) dies auch tun, müssen wir irgendwie davon ausgehen, dass das Verhalten von Löwen einen Massstab für die Beurteilung moralischer Fragen setzt. Das wirkt aber absurd. Wenn Löwen ein Richtmass für ethisch angemessenes Verhalten wären, dann wäre es auch in Ordnung, wenn Menschen ungewollte, physisch schwache oder ungeliebte Kinder töten oder gar verspeisen (da Löwen dies manchmal tun) oder Revierkämpfe ausführen. Löwen sind – im Gegensatz zum Menschen – aber keine „moral agents“ bzw. moralische Akteure. Menschen sind dazu im Stande, moralische Prinzipien aufzustellen und über Handlungen zu reflektieren (ein Mensch kann Prinzipien entwerfen und sich fragen, ob eine Handlung richtig, falsch, angemessen oder unangebracht war – ein Löwe kann das nicht in diesem Ausmass). Nur, weil Löwen ein gewisses Verhalten an den Tag legen, kann menschliches Verhalten nicht darüber gerechtfertigt werden.

Zweiter Denkfehler: Menschen sind Raubtiere

Auch die implizite Annahme, der Mensch sei – genauso wie der Löwe – ein Raubtier, ist schlichtweg falsch. Es ist zwar so, dass der Mensch es geschafft hat, sich Natur und nicht-menschliche Tiere zu unterwerfen, das macht ihn aber nicht automatisch zu einem klassischen Räuber. Im Gegensatz zum Wolf oder Löwen begeben wir uns nicht täglich in die Wildnis, um dort unserem Abendessen aufzulauern und es bei guter Gelegenheit mit blossen Händen (oder unseren Zähnen) zu erledigen. Weder jagen die meisten von uns unser Essen selbst, noch pflanzen wir es eigenhändig an. Ob ich nun eine Karotte einkaufe oder ein Stück totes Tier – beides macht mich nicht zu einem Raubtier.

Dritter Denkfehler: Menschen sind Karnivoren

Löwen sind Karnivoren, Menschen nicht. „Karnivore“ ist der Fachbegriff für Tiere, die sich hauptsächlich von Fleisch ernähren. Karnivoren unterscheiden sich von Herbivoren (Pflanzenfressern) anatomisch hauptsächlich darin, dass ihr Verdauungstrakt kürzer und so ausgelegt ist, dass sie tierische Nahrungsmittel gut verdauen können. Ihr Gebiss hat eine Form, die zum Reissen von Beute und nicht zum Malen von Pflanzlichem dient. Der Mensch ist weder ein Karnivore noch ein Herbivore. Menschen sind Omnivoren, auch Allesfresser genannt. Sie können tierische Produkte zu sich nehmen, ernähren sich aber auch zu einem Grossteil von pflanzlicher Kost. In der Diskussion um den Veganismus wird oftmals darüber gestritten, ob der Mensch ein Omnivore (ein Allesfresser) oder ein Herbivore (ein Pflanzenfresser) ist. Was davon nun auch immer wahr sein soll – für die Frage, welches Verhalten ethisch angemessen ist – spielt es keine Rolle, denn was der Mensch sicher nicht ist, ist ein Karnivore. Löwen sind im Stande, mit ihren scharfen Zähnen ihre Beute zu zerreissen, um danach das rohe Fleisch zu verdauen. Der Verdauungsaparat des Menschen würde dies nicht zulassen. Was der Verdauungsaparat des Menschen aber zulässt, ist eine rein herbivore, also pflanzliche, Ernährung. Denn obwohl der Mensch nicht-menschliche Tiere essen kann, muss er das im Gegensatz zum Löwen nicht, um gesund und aktiv zu sein.

Noch eine weitere Anmerkung: Obwohl, wie bereits gezeigt wurde, der Vergleich des Menschen mit anderen nicht-menschlichen Tieren in Bezug auf die Beantwortung ethischer Fragen nicht sinnvoll ist, wäre es doch eigentlich am naheliegendsten die menschliche Ernährung mit der unseres nächsten Verwandten – nämlich dem Menschenaffen – zu vergleichen. Die Ernährung der Menschenaffen unterscheidet sich aber ziemlich drastisch von der des Löwen, da Menschenaffen sich hauptsächlich von Pflanzen ernähren.

Es ist unnatürlich sich vegan zu ernähren

Das Argument hat zum Zweck zu zeigen, dass „Natürlichkeit“ gewisse Verhaltensweisen rechtfertigen kann. Weil die Körperteile von nicht-menschlichen Tieren zu verspeisen für den Menschen natürlich sei, ist es ihm erlaubt, nicht-menschliche Tiere zu töten und zu gebrauchen. Diesem Argument können mindestens zwei Einwände entgegengehalten werden:

Der naturalistische Irrtum

Der naturalistische Fehlschluss bzw. der naturalistische Irrtum besteht darin zu behaupten, dass sich moralische Qualitäten gänzlich aus der Natur ableiten können. So ein Irrtum ist mir bereits folgendermassen begegnet:

P1Um sich natürlich fortzupflanzen, muss Geschlechtsverkehr über unterschiedliche Geschlechtsteile stattfinden (faktische, neutrale Aussage)
P2Menschen, die gleichartige Geschlechtsteile aufweisen, können sich nicht auf natürliche Weise fortpflanzen (faktische, neutrale Aussage)
KGleichgeschlechtliche Sexualität ist moralisch schlecht, weil sie unnatürlich ist (normative, wertende Aussage)

P1. und P2. sind Tatsachenbehauptungen: es ist tatsächlich so, dass es, wenn eine Schwangerschaft auf natürlich Weise zustande kommen soll, verschiedene, funktionierende Geschlechtsteile dafür braucht. Ein Paar, das dieselben Geschlechtsteile aufweist, kann sich nicht auf natürliche Weise fortpflanzen. Die Konklusion ist jedoch eine Wertebehauptung. Dies wird als Sein-Sollen-Fehlschluss bezeichnet. Sie folgt bei diesem Argument nicht aus den Prämissen, da die Tatsachenbehaupten nichts über die "Sollens-Behauptung" aussagen. Es ist ausserdem merkwürdig, rein anhand daran, ob etwas natürlich ist, eine Folgerung zu ziehen, ob etwas moralisch gut oder schlecht ist. In dem Argument müsste mindestens eine Prämisse aufgeführt sein, die Bezug darauf nimmt, weshalb die Natur mit dem moralisch Guten gleichgesetzt wird (dazu kommt, dass Homosexualität auch in der Natur reichhaltig zu finden ist). Es ist nun auch falsch zu behaupten, dass es moralisch richtig ist, die Körper von nicht-menschlichen Tieren zu essen, nur, weil der Mensch dies als "natürlich" empfindet. Die Schlussfolgerung "Der Konsum von den Körperteilen von nicht-menschlicher Tiere ist gerechtfertigt" lässt sich nicht aus der sachlichen Behauptung ableiten, dass es für den Menschen natürlich ist Produkte tierischen Ursprungs zu essen und er in der Lage dazu ist, sie zu verdauen.

Wenn Natürlichkeit vorgibt, was moralisch gut ist, dann müssten wir viele unserer alltäglichen Handlungen unterlassen

Wer Natürlichkeit als Kriterium für moralisches Handeln festlegt, ist mit einem Dilemma konfrontiert. Zuerst muss erklärt werden, was überhaupt unter dem Begriff „natürlich“ verstanden wird. Eine Möglichkeit Natürlichkeit zu definieren, ist, dass etwas genau dann natürlich ist, wenn es so nahe wie möglich im Einklang mit der Natur steht oder aus natürlichen Prozessen entstanden ist. Das Gegenteil von „natürlich“ wäre folglich der Begriff „künstlich“, da das, was künstlich ist, nicht durch natürliche Vorgänge zu Stande kommt. Medikamente, Verhütungsmittel, Make-Up, Stereoide, künstliche Befruchtung, synthetische Aromen, Konservierungsstoffe usw. sind alles Dinge, die nicht einfach so in der Natur zu finden sind, sondern (meistens) künstlich verarbeitet wurden. Worin aber besteht nun das Dilemma, dem sich der Verfechter dieses Argumentes stellen muss?

Das eine Horn des Dilemmas ist, dass die ethische Implikation der Aussage "was natürlich ist, ist gut bzw. was unnatürlich ist, ist schlecht" auch fordern würde, andere unnatürliche Verhaltensweisen zu unterlassen. Wenn wir unser Leben so führen, um möglichst im Einklang mit den natürlichen Prozessen zu stehen, müssen wir den Gebrauch von Autos, Computern, Antibiotika, Anti-Baby-Pillen und vielem mehr ziemlich hinterfragen. Es könnte eingewendet werden, dass Natürlichkeit nur dann wichtig ist, wenn es um Fragen der Ernährung geht (ob konsistenterweise so argumentiert werden kann, bezweifle ich, ich lasse es aber aus der Debatte), aber auch dann kann das Argument nicht gehalten werden.

Es stellt sich noch ein anderes Problem; nämlich das zweite Horn des Dilemmas, das uns zurück zu der Tierwelt bringt: Selbst wenn Natürlichkeit ausschlaggebend für die Richtigkeit unserer Ernährungsweise wäre, wären wir wohl kaum dazu befugt, nicht-menschliche Tiere oder ihre Sekrete zu konsumieren, denn die Nutzung und Tötung von nicht-menschlichen Tieren ist unnatürlich. Massentierhaltung ist nicht natürlich. Konventionelle Tierhaltung widerspricht der Natur jeglicher nicht-menschlicher Tiere und ist folglich unnatürlich. Weibliche Kühe werden permanent künstlich befruchtet und ihr Genmaterial so manipuliert, dass sie immer mehr Leistung erbringen können. Kühe haben eine Lebenserwartung von 20 bis 30 Jahren, werden aber in der Milchindustrie selten älter als fünf. Ein Masthuhn wird im Alter von ca. 38 Tagen geschlachtet, obwohl es 10 Jahre alt hätte werden können. Das Fleisch von Nutztieren wird nach der Schlachtung nicht direkt verspeist, sondern gelagert, konserviert und verpackt. Milch wird gefiltert und stark erhitzt bevor sie verkauft wird, damit Menschen sie besser verdauen und lagern können - was an sich unnatürlich ist, da Kuhmilch von Natur aus für das Kalb der Kuh gedacht ist und nicht für den menschlichen Konsum.

Natürlichkeit als moralisch relevantes Kriterium für die Vergabe von Rechten anzunehmen, ist keine befriedigende Option. Im Gegenteil: Das Argument widerlegt sich sozusagen selbst.

Es ist in Ordnung nicht-menschliche Tiere und ihre Sekrete zu essen, weil Menschen das schon immer so getan haben

Ein gängiges, potentielles Gegenargument zum Veganismus ist die Behauptung, dass Menschen schon immer Fleisch gegessen haben und es deshalb auch aus moralischer Sicht in Ordnung ist, dies weiterhin zu tun. Die Referenz auf die Menschheitsgeschichte zur Beurteilung moralischer Fragen erweist sich aber als problematisch, da sich feststellen lässt, dass Menschen in der Vergangenheit oftmals Dinge getan oder Traditionen gepflegt haben, die später als unzulässig, grausam oder falsch erachtet wurden. Es gibt unzählige Beispiele, die dieselbe argumentative Form - "x wurde schon immer so getan, also ist x moralisch gerechtfertigt" - haben, wie die Aussage im Titel, die wir aber nicht akzeptieren sollten.* Eine rechtsextreme Person beispielsweise könnte sagen: "Menschen haben schon immer Minderheiten unterdrückt, deshalb ist es völlig in Ordnung, wenn ich das tue." Ein Sexist könnte sagen: "Frauen wurden seit jeher als minderwertig betrachtet, deshalb sollten wir das auch heute so beibehalten." Wir lehnen diese Aussagen aber ab, weil eben genau die Referenz auf die Menschheitsgeschichte nicht rechtfertigen kann, eine solche Überzeugung zu haben.

*Bemerkung zum legitimen Gebrauch von Beispielen, die von der Unterdrückung gewisser Menschen handeln: Die Beispiele behaupten nicht, dass Rassismus und Sexismus nicht mehr existent sind und sie haben auch nicht zum Ziele Menschen, die immer noch tagtäglich Opfer von rassistischem, sexistischem oder anderweitigem unterdrückerischem Verhalten sind, abzuwerten oder auszublenden. Der Fokus liegt auf der Aussage, dass wir nicht in der Lage sind, die Ausgrenzung gewisser Menschen oder nicht-menschlichen Tieren aus der Sphäre moralisch berücksichtigungswürdiger Wesen zu rechtfertigen, in dem wir auf die Menschheitsgeschichte oder Traditionen referrieren. Versuche, Konzepte wie Rassismus, Sexismus, Ableismus, Ageismus und Sepziesismus durch historische Zustände zu begründen, müssen abgelehnt und verurteilt werden, da sie willkürlich sind und weder eine plausible noch kohärente argumentative Basis schaffen. Der Kampf für die Rechte von nicht-menschlichen Tieren und ihre respektvolle Behandlung schliesst auch den Kampf für die Rechte von Menschen und die Ablehnung von systematischer Unterdrückung aller ein.

Es könnte nun eingewendet werden, dass gerade der Rückblick in die Geschichte zeigt, dass es falsch ist, Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Hautfarbe zu diskriminieren oder Frauen als minderwertiger zu betrachten. Das stimmt zwar, wir begründen moralische Legitmität aber in der Regel nicht, indem wir direkt darauf verweisen, dass sie früher nicht existent waren. Vielmehr berufen wir uns auf Gründe, weshalb wir Minderheiten nicht unterdrücken sollten oder beziehen uns auf universelle, rational nachvollziehbare Werte, die gewisses Handeln als lobenswert oder verwerflich bewerten. Auf die Frage, weshalb das Frauenstimmrecht etwas Gutes ist, würden wir wahrscheinlich eine Antwort geben wie: „weil Frauen dieselben kognitiven Fähigkeiten wie Männer aufweisen und es deshalb keinen Grund gibt, sie aus der Gruppe der Stimmberechtigten auszuschliessen“ oder „weil Menschen nicht aufgrund von ihrem Geschlecht beurteilt werden sollten“. Die Frage, die sich nun stellt, ist, wieso wir bei nicht-menschlichen Tieren nicht auch nach Kriterien fragen, die relevant für die Zuschreibung moralischer Rechte sind. Die meisten Tiere sind empfindungsfähige Lebewesen, die im Stande sind, intelligent und kreativ zu handeln, soziale Beziehungen zu anderen Lebewesen aufzubauen und zu erhalten und leiden, wenn ihnen etwas schlechtes widerfährt.

Nur, weil Menschen schon immer ein gewisses Verhalten an den Tag gelegt haben oder gewissen Traditionen gefolgt sind, heisst das nicht, dass diese Verhaltensweisen oder Traditionen auch in Ordnung waren oder sind. Die Nutzung von nicht-menschlichen Tieren für unsere Zwecke muss anders begründet werden. Anstelle ihnen Rechte abzusprechen, weil wir das schon immer getan haben, sollten wir uns fragen, ob nicht-menschliche Tiere nicht Eigenschaften oder Fähigkeiten haben, die sie zu moralisch berücksichtigungswürdigen Wesen machen.

Moral ist subjektiv. Ich kann essen, was ich will

Es stimmt, dass ethische Fragen - im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen oder mathematischen – weder genau empirisch getestet werden können, noch eine einstimmig angenommene, strukturierte Wahrheit herausgefiltert werden kann. Seit vielen Jahrhunderten diskutieren Philosoph:innen, welche ethische Theorie die sinnvollste bzw. konsistenteste ist – und bis heute existiert kein Konsens darüber. Daraus folgt aber nicht, dass Ethik subjektiv ist. Ethik wird in unserer Gesellschaft nicht als subjektives Anliegen aufgefasst, denn die meisten Personen stellen objektive Ansprüche an ihre eigenen ethischen Überzeugungen.

Die Allgemeingültigkeit moralischer Werte kommt beispielsweise dann zum Vorschein, wenn wir jemandem einen Vorwurf machen. Stell dir vor, eine Freundin verspricht dir, dir beim Umzug zu helfen. Am Tage des Umzugs ruft sie an und teilt dir mit, dass sie die Grippe bekommen hat und nicht helfen kann. Nimm weiter an, dass du irgendwie erfährst, dass deine Freundin die Grippe gar nicht bekommen, sondern eine Ausrede erfunden hat, um sich vor der unangenehmen Arbeit zu drücken. Jeder, der kein moralischer Skeptizist ist, würde sich zurecht in der Position fühlen, diese Freundin für ihr Verhalten zu kritisieren. Und wieso? Weil wir der Auffassung sind, dass es immer und objektiv falsch ist, in solch einer Situation zu lügen bzw. ein Versprechen ohne triftigen Grund zu brechen. Wenn wir glauben, dass Moral lediglich etwas wie Geschmackssache oder persönliches Empfinden ist, haben wir keine Grundlage, anderen Menschen einen Vorwurf für ihr Verhalten zu machen, da ihr – in unseren Augen Fehlverhalten – aus ihrer Sicht vielleicht nicht so schlimm ist.

Es ist also kontra-intuitiv, Moral lediglich als Geschmackssache zu behandeln. Eine mögliche Antwort auf das Beispiel wäre zuzugestehen, dass Moral zwar irgendwie einen objektiven Charakter zu haben scheint – dieser sich aber nur innerhalb gewisser Kulturen bewegt. In anderen Ländern und Kulturen mögen andere moralische Regeln und Auffassung herrschen. Moral ist also relativ. Der moralische Relativismus (MR) ist aber wiederum mit Schwierigkeiten behaftet:

  • Erste Schwierigkeit: Wenn der MR wahr ist, dann haben alle moralischen Reformer:innen einen systematischen Fehler gemacht. Die Menschen, die beispielsweise gegen die Institution der Sklaverei gekämpft haben, hätten alle gegen den bestehenden Moralkodex, nämlich, dass Sklaverei zulässig ist, verstossen. Die Reformer:innen hätten somit ein fehlgeleitetes Urteil entwickelt bzw. sich irrational verhalten.
  • Zweite Schwierigkeit: Wenn der MR wahr ist, ist keine Evaluation über verschiedene Kulturen hinweg möglich. Wenn in einem anderen Land mit anderem Wertesystem Menschenrechte verletzt werden, z.B. das Steinigen von Frauen, das Beschneiden von Mädchen, systemischer Rassismus oder die Verfolgung von Minderheiten, sind wir nicht in der Lage dieses Verhalten zu kritisieren.
  • Zusammengefasst: Wenn der MR wahr ist, ist transkulturelle und intrakulturelle Kritik nicht mehr möglich. Transkulturelle Kritik ist nicht möglich, weil wir beispielsweise nicht behaupten dürften, dass systemischer Rassismus in einer anderen Kultur schlecht ist. Das ist aber kontra-intutiv, da wir es normalerweise als sinnvoll erachten, ethische Wertesysteme anderer Länder und Kulturen zu evaluieren und gegebenenfalls zu kritisieren. Intrakulturelle Kritik ist nicht mehr möglich, weil wir nicht behaupten können, dass die Gesellschaft im heutigen Zustand besser ist als früher, weil früher lediglich andere Auffassungen von richtig und falsch existierten (das heisst, wir können beispielsweise nicht kritisieren, dass Homosexualität früher in unserem Land verachtet und bestraft wurde). Entgegen dieser Auffassung macht es aber Sinn vergangene moralische Werte der eigenen Gesellschaft zu kritisieren und mit zeitgenössischen Werten zu vergleichen.

Ethik ist zwar kein Gebiet, wo eine einzige richtige Auffassung so klar wie in der Mathematik herauskristallisiert werden kann – das hat aber nicht zur Folge, dass es nicht eine ausschlaggebende oder wegweisende Tendenz zu gewissen Polen geben kann, die als richtig oder falsch gelten und die dann als objektiv anerkannt werden. Damit ist noch nichts darüber ausgesagt, ob der Veganismus objektiv richtig ist, sondern nur, dass Ethik nicht subjektiv ist. Da Veganer:innen das Leiden der Tiere in den Fokus rücken und der Auffassung sind, dass es falsch ist, empfindungsfähige Lebewesen als Eigentum behandeln zu dürfen, stellen sie auch einen objektiven Anspruch an diese Überzeugungen.

Nicht-menschliche Tiere sind dafür gemacht worden, von Menschen gegessen zu werden

Wer davon ausgeht, dass der Sinn der Existenz von nicht-menschlichen Tiere nur darin besteht, von Menschen gegessen oder von ihnen genutzt zu werden, nimmt bereits vorweg, dass es etwas in der Welt gibt, das über Sinn, Zweck oder Schicksal bestimmt (oder bestimmt hat). Wenn auf diese Weise gegen den Veganismus zu argumentieren versucht wird, müsste zuerst Auskunft über die Vorwegnahme gewisser metaphysischer Überzeugungen gegeben werden. Selbst wenn diese Annahme beispielsweise auf die Existenz Gottes und dessen Konstruktion der Welt und der Hierarchien darin zurückgeführt wird, gibt es überzeugende wissenschaftliche Daten und Theorien, die das Gegenteil behaupten.

Die bedeutendste Theorie, die dieser Aussage widerspricht, ist die Evolutionstheorie. Charles Darwin, der Verfasser der Evolutionstheorie, sowie viele weitere zeitgenössische Evolutionsbiologen, halten die These für wahr, dass eine Kontinuität zwischen nicht-menschlichen Tieren und dem Menschen besteht. Ganz grob zusammengefasst geht die Evolutionstheorie davon aus, dass alle Lebewesen von gemeinsamen Urahnen abstammen, die sich dann – über Millionen von Jahren – unterschiedlich entwickelten bzw. in unterschiedliche Arten differenziert haben. Die Evolutionstheorie ist in der Wissenschaft deshalb ein weitgehend akzeptiertes Fundament, weil sie am plausibelsten erklären kann, weshalb nicht-menschliche Tiere, vor allem Säugetiere, eine fast analoge anatomische Struktur zu der des Menschen aufweisen. Die Aussage, dass die Existenz der Spezies Mensch auf eine gemeinsame Abstammung mit vielen Tieren zurückzuführen ist, widerspricht also der religiösen Aussage, dass der Mensch die „Krone der Schöpfung“ sei, da, so die Implikation von Darwins Theorie, das Auftauchen des Menschen nicht durch ein Wunder, sondern eben durch kontinuierliche Entwicklung der Arten geschehen ist.1 Dies bedeutet aber auch, dass es viele Arten gibt, die bereits existierten, als der Mensch, so wie er heute ist, sich noch gar nicht entwickelt hat. Der Homo Sapiens ist nämlich eine eher neue Spezies – und dies macht die Plausibilität des Gegenargumentes noch unwahrscheinlicher, da es somit schlichtweg nicht sein kann, dass Tiere für uns Menschen „gemacht“ worden sind.

Fleisch war essenziell für die menschliche Evolution

Wie der Mensch sich zu einem rationalen, bewussten und sprachfähigen Wesen entwickeln konnte, ist eine viel diskutierte Frage in den Wissenschaften. Forscher:innen gehen davon aus, dass der Zusammenhang zwischen diesen bemerkenswerten Fähigkeiten des Menschen im überdurchschnittlich grossen Gehirn - im Gegensatz zu seinem Körperbau - liegt. Es stellt sich weiter die Frage, welche Faktoren dazu führten, dass sich aus dem Hominini, einem Tribus der Familie der Menschenaffen, die Gattung Homo entwickelte (zu der unsere Spezies Mensch sowie auch der ausgestorbene Neandertaler gehören).

Ein populärer Ansatz, der diese Frage zu erklären versucht, stellt einen Zusammenhang zwischen Gehirnwachstum und dem Konsum von Fleisch dar. Die Urahnen der Homininlinie lebten vorerst in afrikanischen Feuchtgebietswäldern. In den letzten drei bis vier Millionen Jahren zogen sie ins Grasland, was einige verhaltens- und ernährungstechnische Folgen mit sich brachte. Verdauliche Pflanzennahrung war in der neuen, trockeneren Umgebung weniger leicht verfügbar als in den Feuchtwäldern, dafür lebten in den Grasländern eine Vielzahl an Weidetieren. Die Hominin waren gezwungen, ihre Ernährung – zumindest teilweise – umzustellen.2 Carel van Schaik, ein Anthropologe der Universität Zürich fasst die Hypothese in folgenden Worten zusammen: „Der Mensch ist wegen seiner Ernährung – und der Nahrungsbeschaffung – so unglaublich schlau geworden.“3

Was bedeutet das aber nun? Zusammengefasst lautet die These, dass ein grosses Gehirn mehr Energie braucht und diese Energie nur durch die Aufnahme von energiereicherem Fleisch gewährleistet werden konnte (da Früchte keine sonderlich guten Energielieferanten sind). Es wird vermutet, dass die Hominin nach der Umsiedlung in weniger feuchte Gebiete zuerst Kadaverreste verspeisten und dann im Laufe der Zeit zur Jagd übergingen. Der erhöhte Fleischkonsum führte dazu, dass das Gehirn unserer Vorfahren mit mehr Energie versorgt werden konnte, was wiederum zu physiologischen und metabolischen Anpassungen führte4 (so z.B. kranio-dentale Veränderungen, da weniger Wert auf das Knirschen und mehr auf das Beissen und Reissen von Tierfleisch gelegt wurde, so wie die Verkleinerung des Magen-Darm-Traktes) und zu einer gesteigerten Fähigkeit zu intelligentem Handeln.5

Bevor ich genauer darauf eingehen werde, ob diese Theorie, sofern sie wahr ist, ethische Implikationen auf unsere heutige Lebensweise hat, werde ich zeigen, dass diese These – so gern und oft sie auch von Medien zitiert wird – im wissenschaftlichen Diskurs nicht von allen als plausibel aufgefasst wird.

Eine Forschungsgruppe um Karen Hardy und Jennie Brand-Miller hat kürzlich einen wissenschaftlichen Artikel veröffentlicht, der die Gegenthese aufstellt, dass der Konsum von Fleisch zwar wichtig, aber nicht hinreichend für die Evolution des Homo Sapiens war. Die Forscher:innen sind der Überzeugung, dass die sich neu entwickelte Fähigkeit, Lebensmittel zu kochen, sowie die damit einhergehende gesteigerte Aufnahme von Stärke – ein ausschliesslich in Pflanzen vorkommendes Speicher-Kohlenhydrat – für die Evolution des Homo Sapiens von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit war. Ihre Hauptthese ist, dass energiereiche Stärken (d.h. gekochte Stärke) unerlässlich waren, um den erhöhten Stoffwechselbedarf des vergrösserten Gehirns zu decken; Stärke wird erst beim Kochen in hohem Masse energiereich und die Verdauung dieser Art von Stärke förderte die Zunahme der Gehirngrösse (auch die Verringerung der Darmgrösse meinen sie mit diesem Ansatz erklären zu können, da faserige Pflanzen allmählich durch energieeffizientere pflanzliche Lebensmittel ersetzt wurden).

Die Forscher gehen davon aus, dass pflanzliche Lebensmittel mit hohem Stärkegehalt ein reichhaltiger, zuverlässiger und wichtiger Bestandteil der Ernährung gewesen waren und gegenüber dem Konsum von Fleisch einige überlebenstechnische Vorteile aufwiesen:

  • Der Energieaufwand für die Gewinnung von Pflanzen (Sammeln) war möglicherweise weitaus geringer als derjenige, der betrieben werden musste, um an Fleisch zu gelangen (Jagen)

Pflanzliche Energiequellen waren zuverlässiger als tierische, da sie häufiger vorkamen und in nördlichen Gebieten auch als Winterressource gebraucht werden konnten.

  • Der Konsum von energiereicher Stärke ermöglichte eine erhöhte aerobe Kapazität und förderte die Reproduktion; das heisst, pflanzliche Stärke war wahrscheinlich auch ein nicht zu unterschätzender Energielieferant für die Jagd, die mit beträchtlicher körperlicher Leistung einherging.6 Hardy geht davon aus, dass wenn die Hominin nicht genügend Kohlenhydrate zu sich genommen hätten, diese auf andere Weise Glukose generieren hätten müssen. Die Glykosegenese aus Nichtkohlenhydratquellen hätte aber eine massive Energieaufwendung bedeutet, was die Effizienz bei der Jagd, die kognitiven Fähigkeiten und die Fortpflanzungsraten der Hominin beeinträchtigen hätte können.7

Viele lebenswichtige Nährstoffe wie Ballaststoffe, einige mehrfach ungesättigte Fettsäuren, bestimmte Mineralien und Vitamine können nur aus Pflanzen und nicht aus fleischlicher Nahrung gewonnen werden.8

Fazit: Der Konsum von Fleisch war wahrscheinlich wichtig für die Entwicklung der Gattung der Homo. Wie hoch der Stellenwert vom Nahrungsmittel Fleisch tatsächlich war, ist jedoch umstritten.

Ich bin keine Wissenschaftlerin und kann insofern keine ernstzunehmende Beurteilung dieser Ansätze liefern. Mein Ziel war es auch bloss zu zeigen, dass die Aussage, dass Fleisch kausal verantwortlich für die Ausreifung des menschlichen Gehirns war, kein Fakt ist, sondern eine Spekulation (genauso wie auch nur darüber spekuliert werden kann, inwiefern Kohlenhydrate dafür kausal verantwortlich sind).

Der weitaus wichtigere Punkt ist, dass es keine Rolle spielt, welcher Ansatz nun stimmt, solange keine Beweise erbracht werden, dass der Konsum von Fleisch heutzutage nötig bzw. die einzige mögliche Form der Ernährung ist, die den Anforderungen unseres Körpers gerecht wird. Bislang wurde dieser Beweis nicht erbracht. Im Gegenteil: immer mehr Studien innerhalb der Ernährungs- und Gesundheitswissenschaften stellen einen Zusammenhang zwischen dem Konsum von tierischen Produkten (insbesondere Fleisch) und dem Auftreten einiger Krankheiten (z.B. Krebs, Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen) her und betonen, dass eine vegane Ernährung in Relation zu den aufgezählten Krankheiten einen positiven Effekt hat oder sogar als Prävention solcher Krankheiten auftreten kann.[^8]

Wenn nicht gezeigt werden kann, dass eine (informierte) vegane Ernährung gesundheitsschädigend ist, spielt es aus ethischer Sicht auch keine Rolle, was unsere Vorfahren vor 2 Millionen Jahren dazu verholfen hat, sich langsam zu der Gattung Homo zu entwickeln.

Veganer sind für die Abholzung des Regenwaldes verantwortlich

Während es unterschiedliche Ansätze und Schlussfolgerungen darüber gibt, inwiefern Intelligenz, Empfindungsfähigkeit oder Spezieszugehörigkeit relevante Kriterien für die Vergabe moralischer Rechte sind, wurde das Soja-Argument eindeutig widerlegt. Es stimmt zwar, dass der immense Anbau von Soja zur Abholzung des Regenwaldes und zu erheblichen Belastungen der Umwelt führt – das Soja, das für die Verarbeitung veganer Produkte gebraucht wird, ist aber nicht der Grund dafür.

Fakt ist, dass der mit Abstand grösste Teil des weltweit produzierten Sojamehls als Tierfutter verwendet wird (die Schweiz beispielsweise stellt 14% des Rohproteins inländisch her, der Rest wird importiert. 68% dieser Importe stellt Soja dar, welches wiederum zu 72,1% aus Brasilien stammt). Grund dafür ist, dass der hohe Gehalt an Eiweissen sowie der ausgewogene Anteil an Aminosäuren, Soja zum perfekten Proteinlieferanten für unsere Nutztiere macht.9

Soja-Grafik

In einer Studie der ETH Zürich, werteten Prof. Dr. Michael Siegrist und Dr. Christina Hartmann eine Umfrage mit 5586 Teilnehmer aus der deutsch- und französischsprachigen Schweiz zu Fragen nach dem Einfluss von Fleisch auf die Umwelt aus. Die Studie ergab, dass die Teilnehmer die negativen Umweltauswirkungen von Fleischersatzprodukten auf Sojabasis fälschlicherweise als ähnlich hoch wie bei konventionell erzeugtem Fleisch identifizierten. Im Fazit schreiben die Autoren:

Ein eher überraschendes Ergebnis aus der Studie war, dass die Wahrnehmung der Umweltauswirkungen von Fleischersatzstoffen auf Sojabasis durch die Teilnehmer gleich bewertet wurde, wie diejenigen von konventionell erzeugtem Fleisch. Eine mögliche Erklärung für diese verzerrte Wahrnehmung könnte sein, dass die Sojaproduktion eine Hauptursache für die Entwaldung des Regenwaldes in Brasilien ist (Gollnow & Lakes, 2014).10 Daher liegt es nahe, dass die Konsumenten alle Sojaprodukte, ohne zwischen Soja als Lebensmittel und Soja als Futtermittel zu unterscheiden, mit negativen Umweltauswirkungen in Verbindung bringen. Dies ist eine verzerrte Vorstellung, da Soja, das zur Fütterung von Tieren für die Fleischproduktion verwendet wird, eine grosse Umweltbelastung verursacht, dies aber bei Soja, das als pflanzliches Eiweiss für den menschlichen Verzehr verarbeitet wird, nicht der Fall ist.11

Michael Siegrist und Christina Hartmann (übersetzt aus dem Englischen)

Der Schluss aus diesen Erkenntnissen lässt sich unter zwei Punkten zusammenfassen: 1.) Die Sojaproduktion ist mitunter ein Hauptgrund für die Abholzung des Regenwaldes. 2.) Die mit Abstand grösste Nachfrage an Soja, die mitverantwortlich für die Abholzung des Regenwaldes ist, stellt die Nutztierindustrie.

Das hat nicht nur Folgen für die Umwelt, sondern auch für andere Menschen: Bevölkerungsgruppen, die in Gebieten leben, wo Soja angepflanzt wird, werden aus ihren Dörfern vertrieben, damit Unternehmen Soja anpflanzen können. Um das Soja so verlustreich wie möglich ernten zu können, werden Pestizide eingesetzt, die wiederum zur starken Verschmutzung der Umwelt führen. Der Konsum von Fleisch hat aber noch verheerendere Folgen für die Menschheit. Man braucht kein Mathematiker zu sein, um sich vorstellen zu können, wie viele pflanzliche Ressourcen verbraucht werden, um beispielsweise ein Rind zu füttern, die anstatt dessen von Menschen konsumiert hätten werden können (geschweige denn, was die Nutztierhaltung für eine immense Menge an Wasser benötigt und das, obwohl Wasser auch immer mehr zu einem knappen Gut wird). Opponenten des Veganismus, die aus dem Verbrauch von Soja ethisch verwerfliches Verhalten implizieren, müssen, ihrer eigenen Logik zufolge, somit entweder den Konsum von Fleisch komplett aufgeben oder diesen auf das Minimum beschränken.12 Nur eine geringe Menge an Soja wird zu Produkten wie Tofu, Sojamilch oder Fleischsubsituten verarbeitet und dieses Soja stammt – zumindest in der Schweiz – nicht aus Brasilien. Das Soja, das Substituten als Basis gilt, die für den Menschen zum Verzehr verarbeitet werden, wird in der Schweiz entweder inländisch produziert oder aus dem europäischen Raum importiert.13

PS. Eine vegane Ernährung führt nicht automatisch zu einer Ernährung, die kein Leid mit sich zieht. Auch vegane Produkte können unter menschenrechtsverletzenden Bedingungen hergestellt werden oder besonders schädlich für die Umwelt sein. Es ist deshalb essenziell, dass wir nicht nur abklären, ob ein Produkt vegan ist oder nicht, sondern auch - so gut wir können - hinterfragen, ob Arbeiter und Arbeiterinnen unter fairen Arbeitsbedingungen arbeiten und einen gerechten Lohn erhalten. Der Kakao, der auch in vielen veganen Schokoladen gefunden wird, wird beispielsweise oftmals mit Kinderarbeit gewonnen und es ist auch dort wichtig, auf Alternativen auszuweichen, die die Rechte von Menschen integrieren.

Ich esse nur Bio! Das ist artgerecht und tierfreundlich

Grasende Kühe, verspielte Kälber und Freilandhühner. So stellen wir uns die Tierhaltung, insbesondere die Bio-Haltung, gerne vor. Ist das aber so? Und selbst wenn es so wäre, dürfen wir Tiere dann nutzen und töten? Tiere, die in Bio-Betrieben leben, leben – im Gegensatz zur gängigen Auffassung in der Bevölkerung – nicht in solch idyllischen Verhältnissen. Es ist natürlich so, dass Bio-Haltung an strengere Richtlinien gebunden ist, wie die konventionelle Haltung. Ob Bio deshalb aber aus ethischer Sicht vertretbar ist, ist eine andere Frage.

Eine Grundvoraussetzung für alle Biobetriebe in der Schweiz ist die Haltung nach den Anforderungen RAUS (regelmässiger Auslauf im Freien).14 Bio-Betriebe bieten den Nutztieren zwar mehr Platz an, die Mindestanforderungen sind aber immer noch ziemlich gering. Wo ein Schwein, das in konventioneller Haltung lebt, 0.9m² Platz hat, um sich zu bewegen, liegen die Mindestanforderungen nach Bio-Suisse bei einem Standard von 1.65m² (darin ist der Platz auf dem Laufhof inbegriffen).15

Auch ist es ein Trugschluss, Bio-Haltung automatisch mit Weidehaltung zu verbinden. Es ist zwar so, dass eine Besonderheit der Bio-Haltung in der Weidepflicht besteht, diese ist aber ausschliesslich – als Pflicht als solche – bei der Rinder- und Kuhhaltung vorgegeben. Das bedeutet, dass weder Schweine, Hühner, Ziegen, Kaninchen noch Schafe ein Recht darauf haben, auf eine Weide geführt zu werden. Es muss lediglich sichergestellt werden, dass die Tiere Zugang zu einem Aussenbereich haben. Dies führt dazu, dass immer noch eine immense Anzahl von Tieren im selben Stall gehalten werden. Bei der Legehennenhaltung beispielsweise, sind in einem Bio-Betrieb maximal zwei Stalleinheiten zugelassen. Pro Stalleinheit sind wiederum maximal 2‘000 Legehennen oder 4‘000 Aufzuchthennen zulässig. Das bedeutet, dass auch Bio-Eier oder Bio-Poulet, die in einem normalen Supermarkt eingekauft werden, mit grosser Wahrscheinlichkeit aus einem Stall kommen, der 2'000 bzw. 4'000 Hühner auf einen Schlag beheimatete.16

Nicht nur die Platzfrage ist entscheidend. Auch der Bio Markt steht unter Profitdruck. Auch Bio-Tiere werden immer noch bloss als Mittel zum Zweck verwendet: sie werden genetisch verändert, um mehr Leistung zu erbringen und entsorgt und ersetzt, sobald diese Leistung nachzulassen droht. Auch in der Bio-Haltung werden Kälber ihrer Mutter nach drei Monaten entrissen (bei Schafen und Ziegen sind es 35 Tage und bei Schweinen 40 Tage).17 Auch Bio-Tiere werden nach Leistung gezüchtet und geschlachtet, sobald sie diese Leistung nicht mehr vollbringen können (ein Huhn beispielsweise wird nach Bio-Reglement nach 81 Tagen geschlachtet, obwohl es eine Lebensspanne von bis zu 10 Jahren erreichen könnte).18 Männliche Küken dürfen auch unter Bio-Labeln an ihrem ersten Lebenstag getötet (bzw. vergast oder in anderen Ländern geschreddert) werden, da auch sie ein unwillkommenes Nebenprodukt der Eierindustrie sind. Zudem ist die Schlachtung der Tiere nicht vom Bio-Label geschützt und viele Bio-Tiere, deren Fleisch in Grossverteilern verkauft wird, landen in demselben Schlachthof wie konventionell gehaltene Tiere.19

Anti-Speziesist:innen fordern grundlegende Rechte bzw. gerechte Berücksichtigung der Interessen oder Präferenzen für Tiere. Ein grundlegendes moralisches Recht zu haben – so wie zum Beispiel das Recht auf Unversehrtheit oder das Recht nicht zum Nutzen anderer getötet zu werden – bedeutet, dass es auch dann falsch ist, jemandem dieses Recht zu nehmen, wenn er so artgerecht wie nur möglich gehalten worden ist. Rechte sind eine Art und Weise, wie wir die Interessen anderer schützen können und sie dürfen, um das nochmals zu betonen, auch dann nicht verletzt werden, wenn wir aus ihrer Verletzung einen Profit schöpfen. Der Verweis auf Bio-Produktion reicht nicht, um erklären zu können, weshalb wir Tiere als unser Eigentum benutzen und sie züchten, mästen, melken oder schlachten dürfen.

Selbst wenn garantiert werden könnte, das jedes Tier auf einer Weide lebt und dann irgendwie getötet wird, ohne, dass das Tier etwas davon mitbekommt, würden wir ihre Rechte verletzen.

[^8] McCarty, M., Vegan Proteins May Reduce Risk of Cancer, Obesity, and Cardiovascular Disease by Promoting Increased Glucagon Activity, in: Medical Hypotheses, Bd. 53, Nr. 6, 1999, S. 459–485., Benatar, J., Stewart, R., Cardiometabolic Risk Factors and Plasma Fatty Acids in Vegans – Results of an Observational Study, in: Heart and Lung Circulation, Bd. 26, Nr. 2, 2007, S. 344.


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