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Nicht-menschliche Tiere im Gesellschaftsvertrag - Möglichkeiten eines anti-speziesistischen Kontraktualismus

Lara Biehl, 25.01.2024

Kontraktualistische Moraltheorien stehen vor vermeintlich schwierigeren Voraussetzungen, nicht-menschlichen Tieren direkten moralischen Status zu verleihen. Einerseits, weil die Vertragspartner im Urzustand in kontraktualistischen Systemen selbstinteressiert und rational sein müssen. Da rationale Akteure moralische Prinzipien ableiten, in dem sie versuchen, ihre eigenen Interessen so gut als möglich durchzusetzen, erhalten nicht-menschliche Tiere, wenn überhaupt, höchstens indirekten moralischen Status. Andererseits, weil oftmals aufgeführt wird, dass Gesellschaftsvertragstheorien notwendigerweise mit dem Prinzip der Reziprozität - der wechselseitigen Wahrnehmung von Verpflichtungen - einhergehen. Weil nicht-menschliche Tiere nicht in der Lage sind, Pflichten gegenüber anderen Lebewesen wahrzunehmen, qualifizieren sie sich nicht als Träger direkter moralischer Rechte. Mark Rowlands hat mit seinem Text Contractarianism and Animal Rights (1997) einen vielversprechenden Versuch geleistet, diese Vorurteile gegen kontraktualistische Moraltheorien zu entkräften. Da der Kontraktualismus eine gerechte Vertragsumgebung schaffen will, müssen Unparteilichkeit und Objektivität gewährleistet sein, was bedeutet, dass von moralisch willkürlichen Eigenschaften wie Rasse, Geschlecht, sozialem Status, etc. abstrahiert werden muss. Rowlands argumentiert, dass aufgrund dieser Voraussetzung kontraktualistische Theorien auch im Stande sind, moralische Rechte bzw. direkten moralischen Status von nicht-menschlichen Tieren zu verteidigen.

Rowlands vertritt die These, dass die Auffassung, Tierrechte könnten nicht durch den Kontraktualismus abgeleitet werden, auf einer falschen und inkohärenten Interpretation von John Rawls vermeintlich vertretenem Prinzip der intuitiven Gleichheit beruht. Wenn die Vertragspartner im Urzustand von allen Vorurteilen losgelöst sein müssen, müsste konsistenterweise auch von Eigenschaften wie Rationalität, Spezieszugehörigkeit und moralischer Akteurschaft abgesehen werden. Dies hat zur Folge, dass die Parteien nicht mehr wüssten, ob sie, nachdem das hypothetische Szenario des Urzustandes aufgelöst wird, ein kognitiv dem Durchschnitt entsprechender Mensch oder ein nicht-menschliches Lebewesen sind. Da die Vertragspartner rational und selbstinteressiert sind, würden sie im Urzustand moralische Prinzipien ableiten, die nicht-menschlichen Tieren moralische Rechte zuschreiben.

Rowlands Ansatz wurde mit einer Reihe von Kritiken konfrontiert. Das Hauptproblem, das die Gegner Rowlands identifizieren, betrifft die Behauptung, dass der Urzustand nicht so beschrieben werden kann, dass wir direkte moralische Verpflichtungen gegenüber nicht-menschlichen Tieren ableiten können. Der Einwand lautet, dass es eine notwendige Korrelation zwischen Kontraktualismus und Reziprozität gibt. Wenn Reziprozität notwendigerweise mit kontraktualistischen Moralsystemen zusammenhängt, ist es nicht möglich, nicht-menschliche Tiere durch den Vertrag abgeleitete Prinzipien direkt zu schützen.

Im ersten Teil der Arbeit liegt der Fokus deshalb auf der Frage, inwiefern das Reziprozitätsprinzip aus der Struktur kontraktualistischer Systeme folgen muss. Die Klärung dieser Frage ist insofern relevant, da sie Ausgangslage für alle kontraktualistischen Systeme ist, die die Interessen von nicht- menschlichen Tieren aufnehmen wollen. Ich werde dabei auf Gegenargumente von David Svolba und Peter Carruthers besprechen, da sie bekannte und oft rezipierte zeitgenössische Vertreter eines «orthodoxen» Kontraktualismus sind, der nicht-menschliche Tiere aus dem Geltungsbereich des Vertrags ausschliesst. Es wird sich im Verlaufe der Arbeit zeigen, dass die Hauptkonflikte, die sich zwischen Rowlands und seinen Kontrahenten ergeben, auf «vor-kontraktualistischen» Intuitionen und Prinzipien beruhen. Unter Miteinbezug von Tom Regan und dem Argument der Überschneidung der Spezies werde ich zeigen, dass Gegner eines anti-speziesistischen Kontraktualismus in ihrer Beschreibung des Urzustandes auf arbiträre Konzepte und Begriffe Rückgriff nehmen. Ich werde dann argumentieren, dass eine Unterscheidung von moralischen Akteuren und «moral patients» erfolgreich in das kontraktualistische System implementiert werden kann. Im letzten Teil werde ich offen gebliebene Diskussionspunkte zu Rowlands Beschreibung des Urzustands aufgreifen.

1. Grundbegriffe der Vertragstheorie: John Rawls, Mark Rowlands und der moralische Status nicht-menschlicher Tiere

1.1 John Rawls und der Schleier des Nicht-Wissens

John Rawls Werk «A Theory of Justice» setzt einen kontraktualistischen Rahmen für die Begründung sozialer und politischer Grundprinzipien der Gerechtigkeit. Die Prinzipien der Gerechtigkeit bestehen nach Rawls aus dem Ergebnis eines Entscheidungsfindungsprozesses, auf das sich rationale, selbstinteressierte und freie Akteure unter fairen Bedingungen einigen würden. Die Identifikation dieser Prinzipien findet über ein hypothetisches Szenario statt, das mit dem Begriff «Urzustand» bezeichnet wird. Die Akteure im Urzustand wissen nicht wissen, welche Eigenschaften oder sozialen Positionen sie ausserhalb dieses Szenarios haben werden. Damit aus dem Urzustand gerechte Grundprinzipien resultieren können, müssen die Umstände, unter denen sich rationale Akteure einigen, auch fair sein. Rawls stellt die Gleichheit der Personen und die hypothetische faire Vertragsumgebung über das Konzept des Schleier des Nicht-Wissens her.1 Wenn die Parteien im Wissen über die Eigenschaften und die Position sind, die sie in der Welt haben werden, könnten sie sich einen Vorteil in der Verteilung der sozialen Güter verschaffen.2 Da alle Akteure mit gewissen Vorurteilen behaftet sind und ihre eigenen Interessen ausgehend von ihrer gesellschaftlichen und ökonomischen Lage optimieren wollen, könnten Prinzipien abgeleitet werden, die beispielsweise rassistisch, klassistisch oder sexistisch sind. Um zu garantieren, dass dies nicht geschieht und die Entscheidungen auf Gerechtigkeit basieren, müssen die Vertragspartner hinter dem Schleier des Nicht-Wissens von allen arbiträren individuellen Eigenschaften und sozialen Positionen abstrahieren, die ihnen einen ungerechten Vorteil gegenüber anderen verschaffen könnten. Somit sind die Vertragspartner gezwungen, sich in die Lage der best- und schlechtesgestellten Mitglieder der Gesellschaft zu versetzen und es ist deshalb davon auszugehen, dass sie Prinzipien fällen werden, die schlechter gestellte Personen begünstigen.

Rawls Set von moralisch willkürlichen Eigenschaften: {Rasse, Geschlecht, sozialer Status, Wohlstand, Talente, Grad an Intelligenz, etc.}

Die Akteure sind deshalb nur im Wissen über Dinge, die notwendig sind, um gerechte Prinzipien abzuleiten. Sie wissen beispielsweise über die Umstände der Gerechtigkeit Bescheid, kennen allgemeine Fakten über die menschliche Gesellschaft, die Funktionsweise von Politik und sozialen Institutionen und haben ein Verständnis von Wirtschaftstheorien, der menschlichen Psychologie und wissenschaftlichen Konzepten. Ausserdem verfügen sie über einen Gerechtigkeitssinn.4

Die Prinzipien der Gerechtigkeit kommen letztendlich durch einen hypothetischen Prozess der Reflektion, den Rawls Überlegungsgleichgewicht nennt, zustande. Da die Personen rational sind und einen Gerechtigkeitssinn aufweisen, können sie wohlerwogene Urteile – also Urteile, die rational begründet und nicht durch offensichtliche Vorurteile einvernommen sind – fällen. Obwohl die Urteile der Einzelnen wohlerwogen sind, können sie inkonsistent zu anderen unserer Urteile oder zu denjenigen anderen Menschen sein. Deshalb werden alle Urteile der Akteure im Urzustand zuerst unter allgemeine Grundsätze zusammengefasst. Da dann wieder Inkohärenzen auftauchen, müssen entweder die einzelnen Urteile der Akteure erneut betrachtet und gegebenenfalls an den allgemeinen Grundsätzen angepasst werden oder die allgemeinen Grundsätze müssen sich einzelnen Urteilen annähern. Dieser Prozess der Reflexion wird solange vorgenommen, bis sich ein Gleichgewicht zwischen wohlerwogenen Urteilen und allgemeinen Grundsätzen gebildet hat.5

1.2 Moralphilosophischer Kontraktualismus

Das Ziel, das der Gesellschaftsvertrag erfüllen soll, ist die Festlegung von Prinzipien, die die faire und gerechte Verteilung von Primärgütern sicherstellt und gewisse politische und gesellschaftliche Institutionen, die damit zusammenhängen, legitimiert. Der Kontraktualismus kann aber auch für die Ableitung und die Rechtfertigung moralischer Grundsätze als theoretische Grundlage dienen. Mark Rowlands ist im Gegensatz zu Rawls ein Vertreter einer kontraktualistischen Moraltheorie. Aus den Überlegungen von Rawls wurde klar, dass vor allem der Schleier des Nicht-Wissens Unparteilichkeit generieren soll und vermeidet, dass rationale Akteure Entscheidungen treffen, die aufgrund moralisch irrelevanter Kriterien gefällt werden. Wenn wir also nach der Rechtfertigung einer hinter dem Schleier des Nicht-Wissens etablierten moralischen Norm fragen, können wir darauf verweisen, dass sie gültig ist, weil ihr unter fairen und unparteiischen Bedingungen von rationalen Akteuren zugestimmt worden ist.6 Der Vorteil an kontraktualistischen Systemen ist, wie bereits angedeutet, dass sie relativ einfach - nämlich durch die Eliminierung irrelevanter Eigenschaften - Unparteilichkeit und Objektivität erfassen können. Dadurch, dass die Prinzipien dann durch Deduktion abgeleitet werden, ist auch der Weg ihres Zustandekommens einfach nachvollziehbar.7

1.3 Der moralische Status nicht-menschlicher Tiere im Gesellschaftsvertrag

Wie bereits angedeutet, müssen die Vertragspartner rationale Individuen sein. Rawls Verständnis von Rationalität ist instrumentell und selbstinteressiert. Die Akteure leiten die gerechten Prinzipien rein deduktiv aus ihren Überzeugungen und Interessen ab.8 Zur Rationalität der Akteure gehören nach Rawls zwei Vermögen. Einerseits müssen sie über eine Konzeption des Guten (einen rationalen Plan vom Leben) verfügen, wonach jeder Akteur versucht diejenigen Prinzipien auszuhandeln, die diese Konzeption möglichst einwandfrei umsetzt und ihm den grösstmöglichen Anteil an sozialen Gütern zusprechen.9 Das andere Vermögen ist ein moralisches: Die Vertragspartner müssen einen Gerechtigkeitssinn aufweisen, der ihnen dazu verhilft, faire Bedingungen zu verstehen, diese Bedingungen anzuwenden und eine Handlungsmotivation daraus zu generieren.10 Lebewesen, die über diese Form der Rationalität verfügen, werden folglich moralische Akteure genannt. Lebewesen, die zwar leidensfähig sind, Interessen und Intuitionen haben, aber nicht hinreichend rational sind, moralische Urteile zu formen und gegenüber anderen Pflichten wahrzunehmen, sind keine moralischen Akteure und können den Vertrag nicht mitgestalten. Da der Gesellschaftsvertrag durch einen hypothetischen, auf der Rationalität und dem Selbstinteresse der Akteure gründenden Entscheidungsprozess zustande kommt und weil kein nicht-menschliches Tier die Fähigkeit hat, aktiv an der Gestaltung der Prinzipien mitzubestimmen und einer anschliessenden Vereinbarung zuzustimmen, erhalten sie keinen direkten moralischen Status.

Rowlands fasst das folgende Argument als das «Argument des orthodoxen Kontraktualismus» zusammen:

P1Die Teilnehmenden des Gesellschaftsvertrags sind rationale Akteure.
P2Die rationalen Akteure sind verantwortlich dafür, moralische Prinzipien aus dem Vertrag abzuleiten.
P3Der Vertrag und die daraus abgeleiteten Prinzipien betreffen nur rationale Akteure.
P4Nicht-menschliche Tiere sind keine rationalen Akteure.
P5Der Vertrag und die daraus abgeleiteten Prinzipien betreffen nicht-menschliche Tiere nicht.
P5Nur diejenigen Wesen haben direkten moralischen Status, die am
Gesellschaftsvertrag teilnehmen und von den daraus abgeleiteten Prinzipien
betroffen sind.
KNicht-menschliche Tiere haben keinen direkten moralischen Status11

Das Argument zeigt, dass im orthodoxen Kontraktualismus nicht-menschlichen Tieren keinen direkten moralischen Wert zugeschrieben wird. Das bedeutet aber nicht, dass sie nach Rawls ganz ohne Schutz wären, da Vertragspartner indirekte Pflichten gegenüber nicht-menschlichen Tieren ableiten könnten. Dies wäre dann der Fall, wenn die Parteien im Gesellschaftsvertrag durch die schlechte oder unregulierte Behandlung von nicht- menschlichen Tieren gestört wären. Der Status nicht-menschlicher Tiere wird dann aber nicht an ihrem inhärenten Wert festgemacht, sondern an den Präferenzen moralischer Akteure. Indirekte Pflichten für nicht-menschliche Tiere über den Kontraktualismus zu begründen, war bisher nicht vielversprechend, um die Interessen der Tiere zu schützen. Wenn ökonomische Interessen der moralischen Akteure grösser sind als ihr Interesse am Schutz nicht-menschlicher Tiere, ist es durch den Kontraktualismus weiterhin gerechtfertigt, sie für Nahrungszwecke oder Mode zu töten, zur Unterhaltung zu nutzen oder zu jagen.12 Wir wollen aber, dass nicht-menschliche Tiere aufgrund ihres inhärenten Wertes geschützt werden.

1.4 Mark Rowlands anti-speziesistischer Kontraktualismus

Rowlands ist der Auffassung, dass das orthodoxe kontraktualistische Argument falsch ist. Wenn der Schleier des Nicht-Wissens kohärent aufgefasst wird, müssen nicht-menschliche Tiere notwendigerweise in den Gesellschaftsvertrag einbezogen werden. Rowlands zweifelt dabei nicht an P1., nämlich daran, dass die Vertragspartner rationale Akteure sein müssen. Er lokalisiert den Fehlschluss des Arguments im Sprung von P2. zu P3.; in der automatischen Schlussfolgerung, dass weil die Vertragspartner den Vertrag formen, nur sie davon geschützt werden.13 Um überhaupt den Schleier des Nicht-Wissens als legitimes Mittel für die Ableitung gerechter Prinzipien qualifizieren zu können, muss bereits der Urzustand so beschrieben werden muss, dass er fair ist. Dies ist nur erreichbar, wenn bereits vor der Entscheidungsfindung ein Prinzip angewandt wird, welches faire Voraussetzungen schafft. Rowlands nennt dieses Prinzip, das dem Gesellschaftsvertrag bereits unterstellt ist, das «principle of intutive equality» (IEP).

IEP: Wenn eine Eigenschaft E in dem Sinne unverdient ist, dass das Individuum I, das sie besitzt, nichts zu dem Besitz beigetragen hat, dann ist I nicht moralisch berechtigt, von dem Besitz von E zu profitieren.14

Rawls begeht den Fehler, Eigenschaften wie Rationalität und moralische Akteurschaft als moralisch relevant zu betrachten und fällt so einer sogenannten unreflektierten Intuition zum Opfer - nämlich der, dass nicht-menschliche Tiere nicht im Geltungsbereich des Gesellschaftsvertrags liegen können. Wenn wir aber erkennen, dass die anthropozentrische Beschreibung des Urzustands nicht mit unseren reflektierten Intuitionen, die durch IEP identifiziert werden, übereinstimmt, kann und muss die Umgebung des Urzustands modifiziert werden.15

Unreflektierte Intuition: Eine unreflektierte Intuition ist eine durch Tradition oder anderwärtige gesellschaftlich oder persönlich geprägte Einstellung, die sich bei genauerer Betrachtung aber als bigott und ungerechtfertigt herausstellt.

IEP zufolge sind Eigenschaften wie Rationalität, moralische Akteurschaft oder Spezieszugehörigkeit unverdient, weil sie für ihre Träger Vorteile generieren können, obwohl es zufällig ist, dass wir diese Eigenschaften haben. Es ist somit arbiträr, dass ein Mensch nur aufgrund seiner Spezieszugehörigkeit besonders privilegiert wird, weil weder Menschen noch nicht-menschliche Tiere etwas dafür können, einer gewissen Spezies anzugehören. Weil IEP dem kontraktualistischen System zugrunde liegt, folgt, dass hinter dem Schleier des Nicht-Wissens von mehr abstrahiert werden muss, als von den Dingen, die in Rawls Set zu finden sind:

Rowlands erweitertes Set von unverdienten Eigenschaften: {Rasse, Geschlecht, sozialer Status, Wohlstand, Talente, Grad an Intelligenz, Grad an Rationalität, moralische Akteurschaft, Spezieszugehörigkeit, etc.}

Was bedeutet Rowlands Konklusion für die Parteien im Urzustand? Wenn IEP nun konsequent angewandt wird, wird dies Prinzipien der Moral hervorbringen, die nicht-menschlichen Tieren direkten moralischen Status verleihen. Wenn von Eigenschaften wie Spezieszugehörigkeit und Rationalität abstrahiert wird, können die Vertragspartner nicht wissen, ob sie, wenn der Schleier sich lüftet, Menschen oder nicht-menschliche Tiere sein werden und werden ihre Urteile im Selbstinteresse so fällen, dass nicht-menschliche Tiere von Entscheidungen und Lebensweisen moralischer Akteure nicht geschädigt werden.16 Rowlands zufolge werden die Vertragspartner dann von der Frage: Kann ich mich rational sorgen, eine Entität X zu sein? geleitet sein.17

2. Einwände gegen Rowlands

Der häufigste Einwand, der gegen Rowlands erhoben wird, betrifft die Verwerfung des Reziprozitätsprinzip (RT), das, so David Svolba, notwendigerweise aus dem Kontraktualismus folgt.18 Das RT begründet wechselseitige Verpflichtungen der Akteure: Jeder, der moralische Rechte erhält, muss auch die Pflicht wahrnehmen können, moralische Rechte anderer zu achten. Svolba argumentiert, dass RT aus dem Gesellschaftsvertrag folgt, weil es sich beim Gesellschaftsvertrag um eine freiheitseinschränkende Abmachung verschiedener rationaler und selbstinteressierter Akteure handelt. Weil sie selbstinteressiert sind, würden sie nicht zustimmen, dass die Bürden, die die Einhaltung der Rechte von einer Person abverlangt, ungleichmässig auf die Mitglieder einer Gesellschaft verteilt werden, während die Vorteile und der Schutz der Gerechtigkeit gleich verteilt sind.19

Auch Rawls gibt eine ähnliche Begründung für die Gültigkeit von RT: Damit wir in der Lage sind, eine faire und gerechte Gesellschaft aufzubauen, müssen Akteure miteinander kooperieren. Diese Kooperation fordert aber immer die Aufgabe von Handlungsfreiheit ein. Damit das fair ist, müssen die Akteure von dem Freiheitsverlust profitieren können und dies geschieht dadurch, dass auch andere einen Teil ihrer Freiheit aufgeben müssen.20 Svolba vergleicht nicht-menschliche Tiere im Gesellschaftsvertrag mit «Trittbrettfahrer»; jemanden, der einen gleichen Anteil an Vorteilen geniesst, während er selber nicht akzeptiert, dieselben Vorteile anderen zu gewähren. Svolba folgert, dass kein Vertragspartner so einem Szenario zustimmen würde:21 Es wäre unfair, wenn nur die Hälfte der in einer Gesellschaft lebenden Personen gewisse Pflichten - z.B. die Pflicht das Eigentum anderer zu respektieren - befolgen, während die andere Hälfte davon profitiert, nicht ausgeraubt zu werden, aber sich zusätzlich an fremdem Eigentum bereichert.

Svolba argumentiert nun, dass Rowlands Willkür-Vorwurf an Rawls nicht gerechtfertigt ist. Dass nur moralische Akteure in Rawls Sinne direkten moralischen Status erhalten, ist nicht willkürlich, weil nur sie zur wechselseitigen Verantwortung verpflichtet sind. Weil nicht-menschliche Tiere keine Pflichten wahrnehmen können, wären sie sozusagen mit Trittbrettfahrern vergleichbar und wenn der Gesellschaftsvertrag fair sein soll, erhalten sie keinen direkten moralischen Status. Die Form des Vertrags ist insofern nicht geeignet, nicht-menschliche Wesen miteinzubeziehen, weil ein Vertrag essenziell aus einer Abmachung zwischen Parteien, die fähig zur Kooperation sind, zustande kommt.

Svolba schlägt deshalb ein Prinzip als Alternative zu Rowlands IEP vor, das diese formalen Voraussetzungen des Kontraktualismus adäquater fassen soll: das Prinzip der intuitiven Gleichheit zwischen Personen. Mit der Einführung dieses Prinzips entschärft er Rowlands Vorwurf, dass Rawls seine eigene Grundlage zur Beschreibung des Urzustandes nicht kohärent umsetzt:

IEPP: Wenn P die Eigenschaft Y besitzt und Y unverdient ist, weil P weder für Y verantwortlich ist oder etwas getan hat, um Y zu verdienen, dann kann der Besitz von Y nicht rechtfertigen, dass P einen Vorteil gegenüber anderen Personen in der Gesellschaft S erhält.

Das heisst: Weil RT wahr ist und aus der Struktur des Kontraktualismus folgt, soll nicht von allen unverdienten Eigenschaften abstrahiert werden, sondern nur von denen, die zu einem Nachteil oder zu Ungerechtigkeit zwischen rationalen Personen führen können.23 Da Rationalität und moralische Akteurschaft – und somit indirekt auch Spezieszugehörigkeit – notwendigerweise mit dem Begriff der rationalen Person zusammenhängen bzw. konstitutiv für ihn sind, sind diese Eigenschaften – entgegen Rowlands Folgerungen aus IEP - nicht willkürlich.24 Rowlands Integration von nicht-menschlichen Tieren ist deshalb nicht durch Prozedere begründet, die im Urzustand stattfinden und somit rein subjektiv.22

Zusammengefasst muss Rowlands zu zwei Thesen Stellung nehmen:

  • I) Reziprozität ist das einzige Prinzip, das in den Gesellschaftsvertrag integriert werden kann.
  • II.) Rowlands Argumentation basiert auf subjektiven präexistierenden Werturteilen.

3. Speziesismus, Reziprozität und präexistierende Werturteile: Rowlands Verteidigung

Rowlands hat nun mehrere Möglichkeiten diesen Einwänden zu entgegnen. Um seine Verteidigung besser zu verstehen und nachzuvollziehen, ist es hilfreich, sich vor Augen zu führen, welches Prinzip Rowlands anstelle des RTs dem Kontraktualismus zugrunde legt. Rowlands stützt sich auf Tom Regan Unterscheidung zwischen «moral agents» (moralischer Akteur) und «moral patients» (Moralobjekten).25 Regan definiert ein moralischer Akteur als jemanden, der über höhere kognitive Fähigkeiten verfügt und in der Lage ist, unparteiische Standpunkte einzunehmen, moralische Prinzipien aufzustellen und haftbar gemacht werden kann. Regan bestreitet nicht, dass es eine Reziprozität zwischen moralischen Akteuren gibt. Gegenseitige Kooperation zwischen ihnen ist nötig, um eine faire Gesellschaft aufzubauen. Dies bedeutet aber nicht, dass alle Nicht-Personen automatisch (wenn überhaupt) nur indirekten moralischen Status erhalten. Dem moralischen Akteur stellt Regan den «moral patient» gegenüber. Ein «moral patient» kann handeln, ist leidensfähig und intentional, er ist aber unfähig, die oben aufgeführten mentalen Aufgaben wahrzunehmen. «Moral patients» sind nicht ausschliesslich nicht-menschliche Tiere. Geistig Schwerbehinderte, Babys und Kleinkinder sowie demezkranke und komatöse Menschen weisen die mentalen Fähigkeiten eines moralischen Akteurs nicht auf - verdienen der allgemeinen Auffassung nach aber dennoch moralische Berücksichtigung. Regan ist der Auffassung, dass menschliche «moral patients» nicht nur moralischen Status erhalten, weil sie Menschen sind, sondern weil sie viele verschiedene andere Fähigkeiten mit moralischen Akteuren teilen; sie können leiden, haben Wünsche, Freuden, Überzeugungen, Emotionen und Präferenzen. «Moral patients» können aufgrund dieser Fähigkeiten in ihrem Wohlbefinden geschädigt werden und haben ein subjektives Gefühl dafür, wenn ihnen etwas Schlechtes widerfährt.26

Es stellt sich die Frage, weshalb Lebewesen, die die Fähigkeiten zur Wahrnehmung von Pflichten haben, das Wohlergehen von denjenigen, die sie nicht haben, ohne weitere Begründung verletzten und schädigen dürfen. Denn sofern RT wahr wäre, könnte nicht nur der Status Quo aufrechterhalten werden, weil moralische Akteure triviale Bedürfnisse wie Geschmack oder Mode über ein lebenlanges Leiden und einen meist grausamen Tod von nicht-menschlichen Tieren stellen, sondern es müsste ihnen auch erlaubt sein, menschliche nicht-hinreichend-rationale Personen für diese Zwecke auszubeuten. Dieses Resultat ist aber nicht akzeptabel, da wir keine Moraltheorie akzeptieren würden, die erstens das Töten und Ausbeuten von gewissen Menschen legitimieren würde und zweitens, weil es willkürlich ist, moralische Akteure vor potentiellem Leid zu schützen, während «moral patients», die in ihrer Leidensfähigkeit ähnlich sind, geschädigt werden dürfen.

Ausgehend von dieser Intuition argumentiert Regan, dass der moralische Geltungsbereich der Gerechtigkeitsprinzipien nicht nur auf diejenigen ausgedehnt werden soll, die hinreichend rational sind. Rowlands kann diese Argumentation nun auch für seine Version des Gesellschaftsvertrages nutzen. Der Schleier des Nicht-Wissens hat die Aufgabe, Unparteilichkeit herzustellen und Vorurteile und Befangenheiten auszuschliessen. Regan identifiziert Unparteilichkeit mit dem formalen Prinzip der Gerechtigkeit, das besagt, dass wir ähnliche Fälle ähnlich behandeln müssen. Das Prinzip ist insofern formal, dass es nicht weiter spezifiziert, welche Eigenschaften ein Lebewesen haben muss, damit es als «ähnlich» zu anderen Akteuren gilt.27 Rowlands kann nun argumentieren, dass diese relevante moralische Ähnlichkeit aus den bereits erörterten Gründen nicht in der Rationalität liegt, sondern in Eigenschaften wie beispielsweise Empfindungsfähigkeit, Emotionalität und Intentionalität. Ein nicht-menschliches Tier empfindet subjektives Leid, wenn es von einem moralischen Akteur misshandelt wird. Wie IEP besagt, ist es aber nicht der Fehler dieser Lebewesen, dass sie keine Pflichten eingehen können und sie aufgrund einer nicht selbstverursachten Eigenschaft schlechter zu behandeln, ist schlichtweg unfair.

Wenn wir den Urzustand so beschreiben, dass nur moralische Akteure Prinzipien für andere moralische Akteure ableiten, halten wir das Prinzip der formalen Gerechtigkeit nicht ein und können folglich nicht von einer unparteiischen Beschreibung des Urzustands sprechen. Verfechter des RT machen Fairness daran fest, dass moralische Akteure Freiheit aufgeben müssen, damit sie Rechte erhalten. Die Freiheit, die ein moralischer Akteur aber aufgeben müsste, wenn er darauf verzichtet, nicht-menschliche Tiere zu unterdrücken, ist viel geringer, als die Freiheit, die ein nicht-menschliches Tier verlieren würde, wenn es gezwungen ist, jegliche Erfüllung von Grundbedürfnissen und/oder sein ganzes Leben aufzugeben. In Regans Worten würde das nämlich bedeuten, dass wir ähnliche Fälle unterschiedlich behandeln.

Rowlands kann somit zu I.) kontern, dass Unparteilichkeit eine Voraussetzung kontraktualistischer Theorien ist und sie durch die willkürliche Ausschliessung von einer Gruppe von Lebewesen verletzt wird. Deshalb kann Reziprozität nicht aus der Struktur des Gesellschaftsvertrages folgen.

Rowlands Gegenthese zu I.): Reziprozität als notwendige Voraussetzung für die Beschreibung des Urzustandes verletzt das Prinzip der Unparteilichkeit.

Das Problem ist, dass Regans formales Prinzips der Gerechtigkeit IEPP und RT nicht widerlegt. Weil das Prinzip formal ist, ist auch nicht klar, aus was relevante Gleichheit konstituiert sein muss. Svolba könnte sich nun einfach auf IEPP zurückberufen und argumentieren, dass «hinreichend rational sein» eine moralisch relevante Ähnlichkeit ist, weil nur die meisten Menschen fähig zur Reziprozität sind und dass folglich auch nur ähnliche Parteien ähnlich behandelt werden. Ausserdem gewinnt ein anderer Einwand hier an grösserer Bedeutung: Rowlands Aufnahme von Regans Behauptung, dass auch nicht-hinreichend-rationale Lebewesen aufgrund ihrer Empfindsamkeit moralisch behandelt werden sollen, setzt bereits moralische Überlegungen voraus, die nicht aus einem Überlegungsgleichgewicht hinter dem Schleier des Nicht-Wissens entstanden sind. Wenn moralische Prinzipien nur aus dem Überlegungsgleichgewicht folgen dürfen, so wäre Rowlands nicht in der Lage, Tierrechte oder ihre direkte moralische Berücksichtigung abzuleiten.

Dieser Einwand ist aber fehlgeleitet und beruht auf einer falschen Interpretation davon, wie die relevanten Kriterien hinter dem Schleier des Nicht-Wissens zustande kommen. Rawls hat die Beschreibung des Urzustands selber als ein Überlegungsgleichgewicht definiert, das nicht statisch ist, sondern immer wieder angepasst werden kann oder muss.28 Dass Rawls die Möglichkeit der Revision der Beschreibung des Urzustands eingeführt hat, beruht auf der Erkenntnis, dass der Gesellschaftsvertrag eben oftmals, auch wenn er hypothetisch ist, auf moralischen Intuitionen beruht, die falsch sein können. Personen, die früher Menschen versklavt haben oder dies befürworteten, hätten dafür argumentiert, dass Hautfarbe keine unverdiente Eigenschaft ist und Menschen mit einer anderen Hautfarbe minderwertig oder ohne Akteurschaft gewertet. Rassistische Prinzipien wurden durch kontraktualistische Theorien abgeleitet oder sie werden dazu genutzt, rassistische Ungerechtigkeiten zu irgnorieren.29 Wenn Rawls es nicht zulassen könnte, dass die Beschreibung des Szenarios durch zeitgenössische und reflektierte Intuitionen angepasst werden kann, würden leicht Prinzipien abgeleitet werden können, die sexistisch oder rassistisch sind. Es zeigt sich somit, dass auch Rawls Set von unverdienten Eigenschaften bereits präexistierende Werturteile umfasst:

Wenn der Wert X, der ein Set von unverdienten Eigenschaften ausmacht, von denen abstrahiert werden muss, in den Gesellschaftsvertrag eingegeben wird, werden aus X Prinzipien abgeleitet, die mit den im Set enthaltenen willkürlichen Eigenschaften nicht in Verbindung stehen. Wenn X in Svolbas Sinne mit «hinreichend-rational-sein» gleichgesetzt wird, werden aus dem Vertrag moralische Normen abgeleitet, die rationale Menschen - egal welche anderen Eigenschaften sie haben werden - schützt. Wenn X mit Wesen, die (hinreichend) leiden können, identifiziert wird, werden diese Wesen vom Vertrag geschützt. Egal, welcher Wert X enthält, er beinhaltet immer schon verschiedene Werturteile, die auf die Entscheidungsfindung Einfluss haben werden. Es ist demnach falsch, die Nutzung präexistierender Werturteile nur Rowlands zuzuschreiben, sondern es scheint sich vielmehr um eine Eigenheit des Kontraktualismus zu handeln.

Rowlands Gegenthese zu II.): Die Beschreibung des Urzustands greift immer auf präexistierende Werturteile zurück, sie sind jedoch nur dann legitim, wenn sie reflektiert sind.

Rowlands muss nun noch zeigen, dass sein Ansatz plausibler ist, als der von Vertretern eines orthodoxen Kontraktualismus. Es geht folglich darum, Rowlands Gegenthese zu I.) so gut wie möglich zu stärken. Es soll gezeigt werden, dass die moralisch relevanten Eigenschaften zwischen moralischen Akteuren und «moral patients» auf ähnliche Eigenschaften wie Empfindungsfähigkeit reduziert werden können. Eine Möglichkeit, dies zu tun, ist Svolbas und Rawls personenbezogene Position als willkürlich aufgezeigen. Svolba ist der Auffassung, dass es falsch ist, Rationalität und moralische Akteurschaft als willkürliche Eigenschaften zu bezeichnen, weil sie konstitutiv für den Begriff der Person seien und Personensein relevant für den Gesellschaftsvertrag ist (eine Person ist gemäss ihnen nur jemand, der auch ein moralischer Akteur ist). Rowlands kann Svolba vorwerfen, dass genau diese unreflektierte Nutzung des strikten Personenbegriffs dazu führt, dass Reziprozität vorausgesetzt wird und sein Argument zirkulär ist. Das Problem mit Svolbas und Rawls Konzept der Person liegt nicht in der Festlegung deskriptiver notwendiger Kriterien für «Personensein», sondern in der Tatsache, dass viele Theoretiker implizit normative Schlüsse aus der Unterscheidung von Personen und Nicht-Personen ableiten. Rowlands kann nun argumentieren, dass RT nur deswegen als notwendiges Prinzip aus dem Kontraktualismus folgt, weil die Vertragsteilnehmer bereits als einzig moralisch berücksichtigungswürdige Gruppe an Lebewesen definiert werden – dieser Schluss aber unbegründet speziesistisch und zirkulär.

P1Die Vertragspartner sind Personen.
P2Nur Wesen, die Personenstatus haben, sollten, wenn der Schleier sich lüftet, moralischen Status erhalten.
KDie Vertragspartner sollten moralischen Status haben, wenn der Schleier sich lüftet.
P3Nicht-menschliche Tiere sind keine Personen.
K2Nicht-menschliche Tiere sollten keinen moralischen Status erhalten, wenn der Schleier sich lüftet.

Die Argumentation ist zirkulär, weil die Konklusion - dass nur Vertragspartner moralischen Status erhalten - bereits in den Prämissen angenommen wird und P1. trivial ist, weil Vertragspartner Personen sein müssen, da nur sie im Stande sind, einen Vertrag zu formen. Obwohl P1. wahr ist, muss P2. - die bereits normative Interpretation des Personenbegriffs - von orthodoxen Kontraktualisten näher begründet werden, damit sie nicht der Willkür zum Opfer fällt. Svolba ist aber nicht in der Lage, eine substanzielle Begründung ausserhalb von dem bereits kritisierten RT aufzuführen, sondern er merkt lediglich an, dass Rowlands Ansatz allgemein zu kontrovers für eine Vertragstheorie sei und die meisten Kontraktualisten IEP deshalb ablehnen würden:

«[...]the principle [IEP] would be roundly rejected by those who — like Rawls — subscribe to the traditional and still pervasive moral view that persons, by virtue of their distinctive capacities for rationality and moral agency, are owed special moral consideration and respect.»30

Dies ist aber kein Argument gegen IEP, da Rowlands wahrscheinlich nicht bestreiten würde, dass diese Auffassung vorherrschend ist. Er kann aber dafür argumentieren, dass die gängige Auffassung, dass es in Ordnung ist, nicht-menschliche Tiere für triviale Zwecke von moralischen Akteuren auszubeuten, eine unreflektierte Intuition widerspiegelt - selbst wenn sie weit verbreitet ist. Die Unterscheidung zwischen moralischen Akteuren und «moral patients» kann als Folge einer sich auch in den empirischen Wissenschaften zu findende Denkweise äussern, die den Unterschied zwischen Menschen und nicht-menschlichen Tieren nicht als strikte Trennung definiert, sondern als einen graduellen Unterschied, der sich aus jahrelanger Evolution verschiedener Spezies ergeben hat. Es ist zwar so, dass nicht-menschliche Tiere nicht im Rawlschen Sinne einen Gerechtigkeitssinn aufweisen, aber es könnte dafür argumentiert werden, dass genau dieses Kriterium eben weder notwendig für einen Personenbegriff, noch für moralische Berücksichtigung ist.

Es wird vermehrt kritisiert, dass alle traditionellen Personenbegriffe an die moralische Bedeutsamkeit gekoppelt wird, wahrscheinlich unreflektierten speziesistischen Intuitionen zu Grunde liegen. Als Basis dienen dabei die in Bezug auf Regan aufgeführten Überlegungen zu der oftmals vernachlässigten Rücksichtnahme auf Empfindungsfähigkeit und Emotionalität. Es wird darauf referiert, dass gewisse höhere mentale Kapazitäten ausschlaggebend für moralischen Status sind, wobei viele dieser Kapazitätsargumente, wie hier aufgeführt, als zirkulär entlarvt werden können, weil die moralisch relevanten Fähigkeiten immer so identifiziert werden, dass sie nur für kognitiv normal veranlagte Menschen gelten.

Personenbegriffe, wie der von Peter Singer31 oder Tom Regan, fassen, im Falle von Singer, höhere Säugetiere und bei Regan alle (ausgewachsene) Säugetiere und Vögel und wahrscheinlich Fische. Regan beispielsweise, wertet unter einer Person jemand, der ein «subject-of-a-life» bzw. Subjekt-eines-Lebens ist. Ein Lebewesen ist in Regans Sinne eine Person bzw. ein Subjekt-eines-Lebens, wenn es:

  • Wünsche und Überzeugungen hat,
  • Dinge wahrnehmen und sich erinnern kann,
  • einen Sinn für die Zukunft oder zukünftig eintretende Ereignisse hat,
  • ein emotionales Leben hat, das Empfindungsfähigkeit und Emotionen einschliesst,
  • Präferenzen und Interesse am eigenen Wohlergehen hat,
  • die Fähigkeit aufweist, Handlungen auszuführen und anhand der von ihm/ihr gesetzten Ziele zu handeln,
  • eine psychophysische Identität hat
  • und individuelles Wohlbefinden aufweist, logisch unabhängig davon, ob das Leben oder die Erfahrungen dieses Lebewesen einen Nutzen für andere hat.32

Wenn der Unterschied zwischen Menschen und nicht-menschlichen Tieren nur ein gradueller und kein strikter ist, ist es naheliegend, dass «Menschsein» und diese Spezies charakterisierenden kognitiven Fähigkeiten abstrahiert werden sollten. Es sollte somit auch ein Personenbegriff zugrunde gelegt werden, der, wie bei Regan, diejenigen Eigenschaften fasst, die es braucht, damit ein moralischer Akteur sich rational sorgen kann, eine Entität X zu sein. Rowlands kann argumentieren, dass das formale Prinzip der Gerechtigkeit Rawls und Svolbas Ansatz zwar nicht direkt widerlegen kann - dass seine Ausweitung auf «moral patients» aber sinnvoller und intuitiver ist, weil Leidensfähigkeit, Emotionalität und Intentionalität beispielsweise, die fundamentalsten gemeinsamen Eigenschaften sind, die rationale und nicht-rationale Lebewesen vereinen. Dieser Ansatz minimiert somit auch die Gefahr, das Prinzip der formalen Gerechtigkeit zu verletzen.

Rowlands Argument kann noch weiter gestärkt werden: Es gibt ein bekanntes Gegenargument gegen speziesistische kontraktualistische Theorien - das Argument der Überschneidung der Spezies - das zu zeigen versucht, dass die Voraussetzung eines anspruchsvollen Personenbegriffs nicht von kontraktualistischen Theorien vorausgesetzt werden kann, sofern diese plausibel sein möchten.

3.1 Nicht alle «moral patients» sind nicht-menschliche Tiere: Der Kontraktualismus und das Problem mit dem Kapazitäts-Argument

Direkter moralischer Status für «moral patients» kann aus dem Kontraktualismus folgen, weil moralische Akteure zu einem gewissen Masse in der Lage sind, sich in die Position von nicht-hinreichend-rationalen oder anders rationalen Lebewesen zu versetzen. Regan beispielsweise hat den Kontraktualismus als Moraltheorie abgelehnt, weil, wenn RT vorausgesetzt wird, nicht nur nicht-menschliche Tiere, sondern auch einige Menschen keinen direkten moralischen Status erhalten. Geistig Schwerbehinderte, Babys und Kleinkinder sind nicht fähig zur Reziprozität und würden folglich hinter dem Schleier des Nicht-Wissens keinen direkten moralischen Status erhalten. Regan ist der Auffassung, dass niemand diese Konsequenz akzeptieren kann, da dies ihre moralische Berücksichtigung nur an den Interessen von rationalen Akteuren festmachen würde. Wenn nicht-hinreichend-rationale Menschen nur indirekten moralischen Status hätten, gäbe es keinen Grund, weshalb rationale Akteure sie nicht für ihre Zwecke nutzen dürften. Eine an Demenz erkrankte Person könnte zum Beispiel geopfert werden, damit ihre Organe entnommen und an rationale Akteure gespendet werden können. Dies wäre dann nicht als moralisch falsch klassifizierbar, weil ein bestimmtes Individuum zu Schaden gekommen ist, sondern weil das Wohlbefinden eines rationalen Akteurs auf dem Spiel steht.

Ein solches Ergebnis ist unplausibel und kontraintuitiv. Wenn wir erfahren, dass ein nicht-menschliches Tier «unnötig» gequält wurde, fühlen wir uns schlecht und bewerten die Quälung als falsch, weil wir wissen, dass diesem Individuum etwas widerfahren ist, das negative subjektive Erfahrungen in ihm ausgelöst hat – und nicht, weil ein moralischer Akteure sich bei einer solchen Handlung in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt fühlen.22

Es tut sich folglich ein Dilemma für Vertreter orthodoxer kontraktualistischer Theorien auf: Wenn Reziprozität eine notwendige Voraussetzung für den Urzustand ist, erhalten nicht-hinreichend-rationale Menschen keinen moralischen Status. Wenn diese Menschen aber direkten moralischen Status erhalten sollen und sich moralische Akteure deshalb vorstellen können müssen, ein nicht ebenmässig rationales Lebewesen zu sein, gibt es keinen nicht arbiträren Grund, weshalb der Geltungsbereich des Vertrags nicht auf nicht-menschliche Tiere ausgeweitet werden soll - dies auch, weil nicht-menschliche Tiere meistens höhere kognitive Fähigkeiten aufweisen als menschliche Grenzfälle.33

Peter Carruthers, einer der bekanntesten Vertreter eines orthodoxen Kontraktualismus, versucht das Dilemma aufzulösen, indem er für die Plausibilität von indirektem moralischem Status nicht-hinreichend-rationaler Menschen argumentiert. Carruthers ist der Auffassung, dass die Ausbeutung menschlicher Grenzfälle durch den Gesellschaftsvertrag nicht legitimiert wird, weil dies einen gesellschaftsdestabilisierenden Effekt hätte und rationale Akteure hinter dem Schleier des Nicht-Wissens besser beraten wären, moralische Regeln zu implementieren, die «psychologically supportable» für sie sind. Seine Konklusion baut auf der Prämisse, dass es gewisse Dinge gibt, die fest in der menschlichen Natur verankert sind - wie die Fürsorge für die eigenen Kinder oder älterer Verwandten. Wenn nicht-hinreichend-rationale Menschen ausgebeutet werden dürften, könnte dies eine gesellschaftliche Instabilität hervorrufen, weil viele moralische Akteure eine emotionale oder «natürliche» Bindung zu menschlichen «moral patients» haben.34 Folglich würden Vertragspartner dieses Risiko im Urzustand anerkennen und entsprechend moralischen Schutz für nicht-hinreichend-rationale Menschen ableiten. RT ist gemäss Carruthers nicht gefährdet, weil menschliche Grenzfälle keinen direkten moralischen Status erhalten und nicht der Reziprozität fähig sein müssen. Die Vertragspartner müssen dann auch nicht in der Lage sein können, sich vorzustellen, ein nicht gleichermassen rationales Wesen zu sein, sondern nur, was es für Folgen für ihr Wohlbefinden hätte, wenn ihnen nahestehende nicht-hinreichend-rationale Lebewesen ausgebeutet werden würden.

Carruthers Argument der sozialen Instabilität ist nicht überzeugend. Erstens ist unklar, was in Fällen gilt, wo keine emotionale Relation zwischen moralischen Akteuren und «moral patients» ausgemacht werden kann. Ein kognitiv unterentwickeltes Waisenbaby, das keine Verwandtschaft hat, wäre in Gefahr, ausgebeutet werden zu dürfen - ausser Carruthers könnte aus dem sozialen Instabilitätsargument irgendwie ableiten, dass die moralische Berücksichtigung automatisch auf alle Menschen übertragen wird; selbst wenn diese keine Verwandte haben, die sich um sie scheren. Es ist fraglich, ob er das kann, weil die Referenz auf reine biologische Zugehörigkeit alleine nichts mehr mit seinem Ausgangsargument der sozialen Instabilität zu tun hätte.

Ein weiterer erwähnenswerter Punkt ist, dass Carruthers selbst ausführt, dass Angehörige gewisser Kulturen körperlich deformierte oder kognitiv eingeschränkte Kinder aufgrund kulturellenr oder religiöser Ideale nach der Geburt getötet haben - diese Tötung aber keinen destabilisierenden Effekt auf die Gesellschaft hatte.35 Seine Erklärung für diesen historischen Umstand ist, dass die Gesellschaften nur stabil blieben, weil die Tötung auf religiösen Überzeugungen bzw. unreflektierten Intuitionen beruhte (z.B. «ein geistig behindertes Kind ist vom Teufel besessen»). Hinter dem Schleier des Nicht-Wissens muss aber von solchen Überzeugungen abstrahiert werden. Nicht-menschliche Tiere, im Gegensatz zu menschlichen Grenzfällen, erhalten gar keine Berücksichtigung, weil die emotionale Bindung, die rationale Akteure zu nicht-menschlichen Tieren haben, lediglich kulturell geprägt ist und nicht natürlich aufkommen muss - wie die Bindung zwischen Eltern und Kind oder Verwandten.36

Carruthers Argument ist in mehrfacher Hinsicht irreführend und ungültig. Erstens ist seine letzte Behauptung eine rein empirische Annahme, die er zuerst prüfen müsste, da man die umgekehrte These - dass Menschen seit Anbeginn emotionale Bindungen zu Teilen des Tierreichs gezeigt haben - ebenfalls verteidigen kann. Desweiteren kann die Gleichgültigkeit, die gegenüber der Behandlung von «Nutz- und Labortieren» vorherrscht, genauso das Resultat einer kulturelle Prägung sein wie die Gleichgültogkeit gegenüber der Tötung geistig behinderten oder körperlich deformierten Babys zu früheren Zeiten.

Es ist auch nicht wahr, dass die Ausbeutung von nicht-menschlichen Tiere keinen destabilisierenden Effekt auf die Gesellschaft haben kann. Gruppen wie die Animal Liberation Front oder die Anti-Vivisektionsbewegung SHAC hatten sehr wohl einen destabilisierenden Effekt auf die Gesellschaft und es ist vorstellbar, dass wenn die Bewusstsein über die zeitgenössische Behandlung von nicht-menschlichen Tieren und ihrem Leid darunter wächst, die Ausbeutung von nicht-menschlichen Tieren zukünftig zu Protesten und illegalen Aktionen führen wird. Carruthers wehrt dieses Argument ab, indem er behauptet, dass die Motive von Tierrechtsaktivist*innen nicht aufgrund einer «natürlichen» Bindung zu nicht-menschlichen Tieren entsprangen, sondern auf ungerechtfertigten moralischen Überzeugungen gründen.37 Hier scheint sich Carruthers jedoch offensichtlich zu widersprechen, da eben genau diese «natürliche» Bindung zum Kind nicht in allen Kulturen und bei allen Elternteilen bestanden hat und die moralische Anerkennung von nicht-hinreichend-rationalen Menschen durch Aufklärung und die Identifizierung reflektierter Intuitionen stattgefunden hat. Wenn dem so ist, ist aber nicht ausgeschlossen, dass dieser Überzeugungswandel auch bei nicht-menschlichen Tieren passieren kann. Die Überzeugung, dass die Tötung und Ausbeutung von nicht-menschlichen Tieren richtig ist, ist möglicherweise eine Folge einer unreflektierten Intuition, die, auch wenn sie in der Gesellschaft noch präsent ist, ungerechtfertigt ist. Entweder muss Carruthers sein Instabilitätsargument aufgeben oder so revidieren, dass auch gewisse nicht-menschliche Tiere indirekten Status erhalten.

Beurteilt anhand von diesem Argument von Carruhters, scheint es schwierig, menschlichen Grenzfällen indirekten Status zu verliehen - nicht-menschlichen Tieren aber nicht. Svolba geht einen anderen Weg und versucht allen Menschen direkten moralischen Status zu garantieren. Er schlägt vor, dass rationale Akteure hinter dem Schleier insofern von ihrer Rationalität abstrahieren müssen, als dass sie sich vorstellen können, gewissen Naturgesetzen zum Opfer zu fallen, die kognitive Defizite bei ihnen auslösen könnten – sei es durch genetische Faktoren, einen Unfall oder diverse Krankheiten. Svolba will anschliessend nicht-menschliche Tiere vom Vertrag auszuschliessen, indem er die These aufstellt, dass sich moralische Akteure nur mit menschlichen Grenzfällen identifizieren können und deshalb nur sie direkten moralischen Status haben.

Diese Identifikation ist gemäss Svola keine «technische», sondern setzt die Fähigkeit von Personen voraus, sich in anderen «sehen» zu können. Svolba nennt als Beispiel, dass ich mir vorstellen kann, ein Pharao im alten Ägypten oder ein Alien zu sein, während die Vorstellung von mir als Katze immer bereits eine Vermenschlichung der Identifikation voraussetzt: «we succeed only in imagining a rational mind trapped in a cat shaped body»(Bauer, Svolba, S. 59). Es ist wieder einmal unklar, weshalb dies nicht genauso auf nicht-hinreichend-rationale Menschen zutrifft, da sich moralische Akteure genauso wenig vorstellen können, eine kognitiv behinderte Person zu sein und wir, beim Versuch uns mit ihr zu identifizieren, unseren rationalen Verstand «trapped in a non-rational human shaped body» vorstellen würden. Den Kernunterschied, den Svolba nun zwischen diesen beiden Fällen ausmacht, ist, dass im Urzustand lediglich eine kontrafaktische Projektion nötig ist, die entweder innerhalb personen-ähnlicher (z.B. bei Aliens) oder speziesinterner Gruppen anwendbar ist. Letzteres ist so, weil wir uns vorstellen können, dass wir schwer verunfallen oder genetische Defekte haben und so kognitive Defekte davontragen. Im Gegensatz dazu, so Svolba, können wir uns nicht vorstellen, potentiell als Katze zur Welt gekommen zu sein.38

Svolba setzt für die Zuschreibung von direktem moralischem Status nicht-hinreichend-rationaler Menschen eine eigene Form der Unterscheidung von moralischen Akteuren und «moral patients» voraus. Dies führt uns folglich zu der Frage, ob Svolba RT überhaupt noch vertritt bzw. es aus kontraktualistischen Theorien folgen muss. Svolba behauptet, dass RT insofern immer noch Voraussetzung sein muss, weil menschliche Grenzfälle «Personen» (im engen Sinne) hätten sein können, wenn sie anders vom Schicksal behandelt worden wären. Es gilt dabei immer noch, dass moralische Akteure Prinzipien für moralische Akteure ableiten - aber sie erkennen auch, dass sie ihren Status als moralische Akteure verlieren oder nie hätten ausbilden können. Diese Antwort ist erneut unbefriedigend. Wenn moralische Akteure einsehen, dass sie ihren Personenstatus verlieren können oder ihn vielleicht überhaupt nie ausbilden könnten, denken sie darüber nach, welche Pflichten moralische Akteure an nicht-hinreichend-rationale Wesen wahrnehmen müssten. Bei Kindern kann noch argumentiert werden, dass sie potentielle Personen sind (Kinder haben Status, weil sie Personen werden und das Heranwachsen zur Person geschützt werden muss) - es ist aber schwieriger einzusehen, wie das RT zum Einsatz kommt, wenn wir von Geburt an geistig Schwerbehinderte miteinbeziehen, da diese – genau wie nicht-menschliche Tiere – keine Potentialität zur moralischen Akteurschaft haben.39

Das Problem mit Svolbas Ansatz kann am besten illustriert werden, wenn nochmals unterstrichen wird, welche Arten der Identifikation Svolba unterscheidet:

Qualitative Identifikation (1): Eine Identifikation oder imaginative Projektion liegt dann vor, wenn rationale Akteure sich in anderen rationalen Akteuren erkennen können.

Quantitative Identifikation (2): Eine Identifikation oder kontrafaktische Projektion liegt dann vor, wenn rationale Akteure sich vorstellen können, dass sie menschliche Nicht-Personen hätten sein können.

Nur (2) ist nötig, um nicht-hinreichend-rationalen Menschen direkten moralischen Status zu verleihen. (1) stellt eine strikte Auffassung des Identifikationsbegriffs dar. (2), im Unterschied zu (1), basiert nicht auf einer imaginativen Identifikation von Personen zu «Nicht-Personen», sondern auf der hypothetischen Annahme «ich hätte x sein können» kombiniert mit Aussagen über biologische Verwandtschaft «Menschen hätten nur Menschen sein können». Es ist aber noch nicht geklärt, weshalb die Linie bei der Speziesgrenze gezogen werden muss. Rowlands geht davon aus, dass der Urzustand bisher in einer speziesistischen Weise beschrieben wurde und nur diejenigen Eigenschaften abstrahiert wurden, die Ungerechtigkeiten zwischen kognitiv normalen Menschen herbeiführen könnten. Svolbas (2) legt fest, dass der Urzustand so beschrieben werden soll, dass beispielsweise von Kenntnissen der eigenen DNA abstrahiert wird und Vertragspartner sich folglich überlegen müssen, ob sie vielleicht mit einem Gendefekt zur Welt kommen. Es ist nicht trivial, wieso sich ein rationaler Akteur vorstellen kann mit einer anderen DNA, aber nicht im Körper einer anderen Spezies geboren worden zu sein. Svolba betrachtet den Urzustand als rein theoretisches und hypothetisches Konstrukt und wenn er davon ausgeht, dass sich rationale Akteure vorstellen können, ein «moral patient» zu sein, ist fraglich, weshalb sie das nur bei menschlichen «moral patients» können. Svolba müsste voraussetzen, dass Vertragspartner in einer gewissen Weise eine Genealogie hätten oder die Menschheitsgeschichte im Urzustand relevant ist, in dem Sinne, dass sie mit Sicherheit, wenn der Schleier sich lüftet, als Menschen existieren müssen. Rowlands kann dies anzweifeln, indem er zeigt, dass kontrafaktische Identifikation zwar eine Rolle im Gesellschaftsvertrag spielen muss, um den Vertragspartner eine Möglichkeit zu geben, sich in «moral patients» versetzen zu können, aber (1) auch umformuliert werden kann zu:

*Identifikation (1)**: Eine Identifikation oder kontrafaktische Projektion liegt dann vor, wenn rationale Akteure sich in anderen Akteuren/Lebewesen erkennen können.

Rowlands kann darauf hinweisen, dass moralische Akteure sich in der Tat auch mit nicht-menschlichen Tieren identifizieren können. Wenn ein nicht-menschliches Tier gequält wird, fühlen wir uns schlecht oder zeigen Mitgefühl, weil wir uns in das Tier hineinversetzen und uns vorstellen, dass seine Misshandlung Schmerzen verursacht und extreme Ängstlichkeit hervorgerufen hat und mit negativen subjektiven Gefühlen einhergeht. Es mag sein, dass ich aufgrund meiner Gene nie eine Katze hätte sein können, aber es kann gut sein, dass ich aufgrund meiner Empfindungsfähigkeit dieselben Schmerzen und den Verlust an Wohlbefinden verzeichnen kann wie sie. Auch nicht-menschliche Tiere sind mit Menschen verwandt und sie zeigen ähnliche Reaktionen und Emotionen auf aversive und unangenehme Reize. Warum soll der Fakt, dass ich eine andere menschliche DNA haben könnte, relevant sein für den Urzustand und warum nicht die Möglichkeit, dass ich in einem anderen Körper hätte geboren werden können? Weshalb sind Potentialität, Vergangenheit oder kontrafaktische Szenarien, in denen ich ein kognitiv eingeschränkter Mensch hätte sein können, hinter dem Schleier relevant, aber nicht, dass ich mir vorstellen kann, dasselbe Leid zu erfahren, wie ein nicht-menschliches Tier? Wenn kein strikter Unterschied zwischen Menschen und Nicht-Menschen ausgemacht werden kann, kommt Regans Schlussfolgerung wieder zum Zug: Wenn die Vertragspartner in der Lage sein sollten, sich in menschliche Nicht-Personen zu versetzen, nicht-menschliche Tiere, aber ausgeschlossen werden, beruht das Argument auf ungerechtfertigten speziesistischen Annahmen. Der Schleier des Nicht-Wissens soll Unparteilichkeit garantieren und Rowlands (1*) kann das Prinzip der formalen Gerechtigkeit besser fassen als Svolbas (2), weil (1*) Identifikation mit gemeinsamen ähnlichen Eigenschaften identifiziert und nicht nur mit gemeinsamen ähnlichen Eigenschaften innerhalb der Speziesgrenze.

Für den Kontraktualismus bedeutet das, dass wenn menschliche Nicht-Personen direkten Status erhalten, RT nicht im bereits definierten Wortlaut angewendet wird, sondern ein Prinzip zugrunde liegt, welches von Svolba lediglich speziesistisch verteidigt wird. Dieser Punkt wurde bereits 1979 von dem Philosophen Donald VanDeVeer aufgegriffen und kritisch diskutiert. VanDeVeer ist der Überzeugung, dass Kenntnisse über die eigenen speziesinternen naturgesetzlichen Möglichkeiten im Urzustand parteiisch sind. Er geht davon aus, dass, wenn sowieso angenommen wird, dass die Vertragspartner sich vorstellen können, einen nicht-hinreichend-rationalen Menschen zu sein, der Urzustand nur dann fair beschrieben wird, wenn die Vertragspartner nicht wissen, welches nicht-hinreichend-rationale Wesen sie genau sein könnten. Wenn die Vertragspartner bereits wissen, dass sie als Menschen geboren werden, werden sie speziesistische Prinzipien ableiten, genauso, wie wenn die Vertragspartner wüssten, dass sie zu einer bestimmten Rasse gehören, rassistische Normen aufstellen würden. VanDeVeer legt die Erklärungsnot auf den Vertreter des Arguments und meint, dass gezeigt werden muss, weshalb «zur Spezies Mensch gehören» ein relevanter Faktor ist.40

Gemäss VanDeVeer würden die Vertragspartner sich fragen, welche Rechte oder moralischen Schutz sie benötigen, wenn sie ein nicht-hinreichend-rationales Wesen wären. Wenn sie diese Möglichkeit offen hätten, würden sie die Prinzipien ableiten, die ihnen grösstmöglichen Schutz gewähren. Rationale Akteure würden diese Lebewesen dann mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht als Trittbrettfahrer betrachten, weil sie nicht in der Lage sind, Reziprozität wahrzunehmen, sondern als Lebewesen, die sie möglicherweise sein könnten und deren Bedürfnisse so gut als möglich gewahrt werden müssen. Die Kontrafaktizität der Identifikation muss somit, wenn sie unparteiisch sein soll, nicht-menschliche Tiere sowie menschliche Randgruppen fassen und kann nicht nur innerhalb der Spezies angewendet werden.

4. Ein Dilemma für Rowlands

Die Diskussion der Argumente zu den Möglichkeiten der Beschreibung des Urzustands haben gezeigt, dass der Kontraktualismus nicht notwendigerweise mit dem Reziprozitätsprinzip zusammenhängt und dass die Möglichkeit zur Integration von nicht-menschlichen Tieren möglich scheint. Die letzten Einwände von Svolba, die noch diskutiert werden, betreffen Rowlands Set an unverdienten Eigenschaften. Svolba kritisiert, dass aufgrund IEP hinter dem Schleier nicht mehr ersichtlich ist, welche Eigenschaften für die Bestimmung der moralischen Ansprüche eines Individuums überhaupt noch relevant sind. Svolba geht davon aus, dass die Eigenschaften, die in Folge von Rowlands Prinzip als moralisch willkürlich gewertet werden, von den meisten anderen Vertretern von Tierrechten, wie Singer und Regan, abgelehnt werden. Svolbas Interpretation von IEP kann folgendermassen aufgefasst werden:

IEP*: Eine Eigenschaft E ist dann moralisch willkürlich, wenn sie unverdient ist und der Besitz von E nicht durch das Verschulden des Trägers von E zustande gekommen ist.

Aus IEP* folgt, dass ein «Subjekt-eines-Lebens» zu sein oder bestimmte Interessen und Präferenzen zu besitzen, unverdient ist und nicht durch das Verschulden des Lebewesens, das die Eigenschaften besitzt, zustande gekommen sind. Svolba merkt richtigerweise an, dass Rowlands Richtwert, an dem sich die Vertragspartner orientieren können, darin liegt sich rational darüber sorgen zu können, ein bestimmtes Wesen zu sein, wenn der Schleier sich lüftet. Sich sorgen zu können, ein bestimmtes Lebewesen zu sein, muss aber in unverdienten Eigenschaften gründen, da eine Eigenschaft der einzige Referenzpunkt für Vertragspartner ist, sich in ein Wesen versetzen zu können, das sie nachdem der Schleier sich lüftet, sein könnten.

Es tut sich somit ein Dilemma für Rowlands auf: Wenn Vertragspartner innerhalb von Rowlands Beschreibung des Urzustands moralische Prinzipien aufstellen müssten, würden sie wahrscheinlich entscheiden, dass ein Kalb nicht nach der Geburt von seiner Mutter entfernt und getötet werden darf, weil das Kalb empfindungsfähig ist und die Trennung der Mutter ein subjektives, negatives Gefühl in beiden Individuen hervorruft. Wenn Rowlands aber diese Erklärung aufführt, dann schreibt er einem Wesen moralischen Status aufgrund von Eigenschaften zu, die nach der Logik seines eigenen Prinzips moralisch willkürlich und irrelevant sind, weil das Kalb nichts dafür hat, empfindungsfähig zu sein. Rowlands muss dann darauf ausweichen, dass er einige unverdiente Eigenschaften, also die, die festlegen, ob ein rationaler Akteur sich rational sorgen kann X zu sein als nicht willkürlich kennzeichnet.41 Dann hat Rowlands aber das Problem, dass Philosophen wie Carruthers einfach darauf bestehen können, dass Rationalität und Reziprozität zwar aus moralischer Sicht unverdient, aber nicht willkürlich sind und die Beschreibung des Urzustands an ihnen festmachen. Rowlands hätte dann keine Möglichkeit mehr, anhand kontraktualistischer Systeme Tierrechte zu verteidigen, da nicht mehr klar ist, welche Eigenschaften unverdient, aber moralisch relevant sind.

Es kann eingewendet werden, dass das Dilemma, das Svolba skizziert nur scheinbar eines ist und auf einer falschen Interpretation von Rowlands IEP beruht. Rowlands Wortlaut für IEP ist:

«[...] if a property is undeserved in the sense that its possessor has done nothing to merit its possession, then its possessor is not morally entitled to whatever benefits accrue from that possession.»42

Rowlands behauptet nicht, dass wenn eine Eigenschaft unverdient ist, sie moralisch willkürlich ist, sondern er hebt heraus, dass ein Individuum I dann moralisch nicht berechtigt ist, von der Eigenschaft zu profitieren, wenn es einen Vorteil daraus zieht. Rowlands Position kann so interpretiert werden, dass er Eigenschaften wie «Subjekt-eines-Lebens sein» oder «Präferenzen und Interessen aufweisen» als unverdient bezeichnet, weil die Individuen, die diese Eigenschaft aufweisen, tatsächlich nichts dafür haben, sie zu besitzen. Es ist aber essenziell für die Beurteilung der moralischen Relevanz von unverdienten Eigenschaften, ob ein Akteur von ihnen gegenüber anderen profitieren kann. Hautfarbe ist eine unverdiente Eigenschaft und sie ist deshalb moralisch willkürlich, weil Menschen, die eine gewisse Hautfarbe aufweisen, einen unfairen und ungerechtfertigten Vorteil daraus ziehen können. Die meisten Menschen sind rational und Rationalität ist eine unverdiente Eigenschaft. Um herauszufinden, ob Rationalität moralisch willkürlich ist, müssen sich moralische Akteure fragen, ob sie aufgrund dieser Eigenschaft einen ungerechtfertigten Vorteil gegenüber anderen ableiten könnten. Da dies der Fall ist - weil Rationalität dazu gebraucht wird, die Ausbeutung nicht-menschlicher Tiere zu legitimieren - ist sie moralisch willkürlich. Es ist plausibler, Rowlands IEP im Hinblick auf die Abstrahierung gewisser Eigenschaften wie folgt zu verstehen:

Prinzip der unverdienten Eigenschaften (Rowlands): Eine Eigenschaft ist dann unverdient und moralisch willkürlich, wenn ihre Abstraktion keinen Einfluss darauf hat, dass ein moralischer Akteur sich rational sorgen kann, eine Entität X zu sein.

Rowlands betrachtet gewisse Eigenschaften in der Tat als nicht willkürlich. Wie Svolba richtig beschrieben hat, wird aus Rowlands Beschreibung des Urzustandes folgen, dass wir keine Berechtigung haben, sogenannte «Nutztiere» für Nahrungszwecke zu töten, weil kein rationaler Akteur einwilligen würden, für triviale Gelüste getötet zu werden, wenn es Alternativen gibt, die ein gesundes Leben ermöglichen. Moralische Akteure wären zwar gefordert, einen Teil ihrer Freiheit - der beispielsweise Essgewohnheiten betrifft - aufzugeben. Nicht-menschliche Tiere im Gegensatz, erleben durch unseren Anspruch, sie essen zu dürfen, nicht nur einen meist qualvollen Tod, sondern ein deprimierendes und elendes Leben. Das Leiden, das durch die Freiheitseinschränkung in Essgewohnheiten, das moralische Akteure als Veganer potentiell erleben, ist kaum vergleichbar mit den Opfern, die nicht-menschliche Tiere zu erbringen gezwungen sind. Jeder selbstinteressierte und rationale Akteur hinter dem Schleier des Nicht-Wissens würde deshalb moralische Normen ableiten, die nicht-menschliche Tiere vor dieser Ausbeutung schützt. 43 Diese Überlegungen, die Rowlands den Vertragspartner zuschreibt, scheinen zu suggerieren, dass es mindestens eine grundlegende Eigenschaft gibt von der nicht abstrahiert werden kann, damit man sich rational sorgen kann, X zu sein. Rowlands kann dann zugeschrieben werden, dass er die zu abstrahierenden Eigenschaften in dem Sinne definiert, dass sie dem formalen Prinzip der Gerechtigkeit entsprechen und der kleinste zur Identifikation hinreichende gemeinsame Nenner als das identifiziert wird, wo wir uns allen am ähnlichsten sind: in der Fähigkeit eine gewisse Art subjektiver Empfindungen zu haben - dass unsere Leben besser oder schlechter verlaufen können und wir abhängig von den Handlungen anderer sowie der Umgebung, in der wie leben, sind. Das an Rowlands gestellte Dilemma ist somit nur scheinbar eines.

Die letzte hier diskutierte Schwierigkeit, die Rowlands Ansatz aufweist, ist der Vorwurf, dass Rowlands Prinzip zu ausschweifend ist und Vertragspartner keinen Anhaltspunkt mehr haben, wie sie präzise moralische Prinzipien und Normen ableiten können, wenn sie nicht wissen, welche Art von Lebewesen sie sein werden. Wenn der kleinste hinreichende gemeinsame Nenner zwischen moralischen Akteuren und nicht-hinreichend-rationalen Lebewesen eine sehr primitive Form von Empfindsamkeit sein kann, die bei Wesen zu beobachten ist, denen nicht einmal andere Vertreter von Tierrechten moralischen Status zuschreiben würden (z.B. Insekten), würde Rowlands Kontraktualismus als Grundlage für eine Moraltheorie unattraktiv, kontra-intuitiv oder unmöglich erscheinen. Es ist tatsächlich eine offene Frage, wie genau Rowlands diesen Vorwurf löst und wie er die Entscheidungsfindung der Vertragspartner genau gestaltet. Es ist nicht in meinem Ermessen das folglich noch eingehend zu diskutieren, sondern lediglich ein paar Ausblicke darzustellen, wie Lösungsansätze aussehen könnten und weshalb Rowlands Position dennoch eine aussichtsreiche Perspektive für die Beantwortung tierethischer Fragen innerhalb des kontraktualistischen Systems bieten kann.

Einerseits scheint es fehlgeleitet zu sein, anzunehmen, dass nur, weil Vertragspartner gefordert sind, sich als verschiedene «moral patients» vorzustellen, dies zu einer kompletten intellektuellen Überforderung der rationalen Akteure führt. Der Urzustand schliesst nicht aus, dass die Vertragspartner keine Kenntnis davon haben, was für verschiedene Arten von Lebewesen, Rassen, Geschlechtern, etc. es gibt – sie wissen lediglich nicht, welchen Platz sie in der Welt einnehmen, wenn der Schleier sich lüftet. Rawls gesteht den Vertragspartner jegliche Informationen und Fakten über die Welt, so wie psychologische Einsicht in das menschliche Verhalten oder wissenschaftliche Daten zu. In Rowlands System würde sich dieses Wissens auf empirische, psychologische und evolutionstheoretische Daten bezüglich nicht-menschlicher Tiere erweitern. Da kein rationaler und selbstinteressierter Akteur, wie in einem vorherigen Beispiel bereits erwähnt, einer frühzeitigen Trennung eines Kindes von einer essenziellen Bezugsperson zustimmen würde, könnten moralische Regeln zur Nutzung oder eben Nicht-Nutzung von nicht-menschlichen Tieren abgeleitet werden. Wenn sich herausstellt, dass Insekten nur minimal empfindungsfähig sind, so dass sie zwar ihre Umgebung fühlen oder sehen, nicht aber wirklich leiden können, werden die Akteure keinen moralischen Status für sie ableiten. Es ist in der Tat so, dass die Vertragspartner einen beträchtlichen Mehraufwand in die Ableitung moralischer Prinzipien investieren müssten, als wenn sie nur rationale Akteure miteinbeziehen – dies ist aber eine Konsequenz jeder Moraltheorie, die sich dem moralischen Status von nicht-menschlichen Lebewesen zuwendet. Genau wie bei anderen Moraltheorien entsteht die grösste Schwierigkeit bei Handlungsanleitungen in aussergewöhnlichen Situationen. Kann Rowlands Theorie eine Antwort darauf finden, was zu tun ist, wenn beantwortet werden soll, ob ein Hund oder ein rationaler Akteur gerettet werden soll? Obschon Rowlands Überlegungen zum Vegetarismus Aufschluss darüber geben, dass wahrscheinlich jedem hinreichend empfindsamen Lebewesen ein Lebensrecht zugestanden werden muss, ist noch unklar, wie diese Lebensrechte im Vergleich zu anderen eingestuft werden. Ist in Sonderfällen, wenn es um Leben gegen Leben geht, empfindungsfähigeren oder intelligenteren Wesen Vorrang zu gewähren? Dies sind weiterführende Überlegungen, die Rowlands nicht-speziesistischer Kontraktualismus zu beantworten versuchen muss. Es sei hier noch angemerkt, dass auch wenn in diesem Rahmen keine abschliessende Antwort gegeben werden kann, auch orthodoxe kontraktualistische und andere moralphilosophische Systeme mit solchen Sonderfällen Schwierigkeiten haben. Kann aus dem Kontraktualismus ein Prinzip abgeleitet werden, das den eigenen Kindern immer Vorrang gibt oder wird das Prinzip der Unparteilichkeit dann verletzt? Hätten wir gemäss Carruthers immer die Pflicht kognitiv ausgereiftere Personen vor weniger intelligenten zu bevorzugen? Rowlands Kontraktualismus kann sicher Ansätze liefern, diese Fragen zu beantworten.

Fazit

Ausgehend von Mark Rowlands anti-speziesistischen Ansatz kontraktualistischer Moraltheorien wurden mehrere Einwände gegen seine Theorie besprochen. Die Arbeit fokussierte vor allem auf die Beantwortung der Fragen, ob die Form des Gesellschaftsvertrages es überhaupt zulässt, einer speziesübergreifenden Gruppe von «moral patients» direkten moralischen Status zu verleihen und welche Probleme sich mit Rowlands spezifischem Vorschlag ergeben. Zuerst wurden Einwände von David Svolba und Robert Garner diskutiert, die einerseits kritisierten, dass das Reziprozitätsprinzip notwendigerweise mit kontraktualistischen Systemen zusammenhängt und Rowlands nur durch die Voraussetzung präexistierender Werturteile zum Schluss kommen kann, dass nicht-menschliche Tiere von den Vertragsparteien berücksichtigt werden. Die Hauptstrategie zur Verteidigung von Rowlands war sein Ansatz, der behauptet, dass Rawls sein eigenes Prinzip nicht konsistent angewendet hat und Reziprozität somit keine notwendige Voraussetzung sein muss, zu stärken und zu zeigen, dass Rowlands Auffassung des Inhalts des Prinzips der formalen Gerechtigkeit und somit der Unparteilichkeit plausibler ist. Bezüglich der Frage wegen Rowlands Rückgriff auf bereits präexistierende Werturteile wurde gezeigt, dass dies ein inhärentes Problem kontraktualistischer Theorien ist. Weil die Beschreibung des Urzustands selbst auf einem Überlegungsgleichgewicht beruht, ist es unumgänglich, dass ein Teil der moralischen Überlegung bereits vor dem eigentlichen hypothetischen Szenario der Entscheidungsfindung getätigt werden müssen. Auch Svolba versucht die theoretische Relevanz von Rationalität und moralischer Akteurschaft im Kontraktualismus anhand bereits vorausgesetzter Werturteile zu erklären. Nachdem dies geklärt wurde, habe ich wieder versucht, Rowlands Position gegenüber denen von orthodoxen Kontraktualisten als plausibler darzustellen. Einerseits habe ich dazu Rückgriff auf allgemeine Kritiken speziesistischer Argumentation – so zum Beispiel, dass Svolbas Personenbegriff und dessen moralische Relevanz willkürlich und zirkulär ist – genommen und andererseits diese Bedenken durch das Unvermögen kontraktualistischer Theorien, menschliche Nicht-Personen in seinen Geltungsbereich einzuschliessen, gestützt. Dem Verteidiger eines orthodoxen Kontraktualisten stellt sich dann ein Dilemma: Entweder wird Reziprozität vorausgesetzt und menschliche Nicht-Personen und auch gewisse nicht-menschliche Tiere erhalten keinen oder höchstens indirekten moralischen Status oder die Vertragspartner sind in der Lage, sich hinter dem Schleier des Nicht-Wissens als nicht-rationale Wesen vorzustellen, wonach ein Ausschluss von nicht-menschlichen Tieren, nur, weil sie keine Menschen sind, arbiträr ist und sie direkten moralischen Status erhalten müssten. Zuletzt wurden noch einige Einwände zu Rowlands IEP und dessen praktisch Umsetzung im Gesellschaftsvertrag diskutiert. Svolba wollte Rowlands Position ad absurdum führen, indem er zeigte, dass nach IEP jede unverdiente Eigenschaft schlussendlich moralisch willkürlich ist und somit auch von Empfindsamkeit, Interessen oder Konzepten wie «Subjekt-eines-Lebens sein» im Urzustand abstrahiert werden muss. Svolbas Interpretation von IEP kann aber angezweifelt werden. Es scheint sinnvoller zu sein, Rowlands die Auffassung zuzuschreiben, dass gewisse Eigenschaften zwar unverdient, sie aber nur dann moralisch willkürlich sind, wenn ihr Träger durch sie gegenüber anderen profitieren können. Aus diesen Erkenntnissen kann davon ausgegangen werden, dass kontraktualistische Systeme keine strukturellen Eigenheiten aufweisen, die nicht-rationale Wesen per se aus ihrem Geltungsbereich ausschliessen und dass auch der Kontraktualismus dazu genutzt werden kann, den direkten moralischen Status von nicht-menschlichen Tieren zu begründen.


  1. Rawls, John, A Theory of Justice. Revised Edition, Harvard 1999, S.102ff.
  2. Ebd., S. 122.
  3. Ebd., S. 129.
  4. Rawls, John, Gerechtigkeit als Fairness, Frankfurt am Main 2003, S. S. 59 – 63.
  5. Garner, Robert, A Theory of Justice for Animals: Animal Rights in a Nonideal World, New York 2013, S. 6f.
  6. Rawls, A Theory of Justice, S. 120.
  7. Ebd., S. 102.
  8. Ebd., S. 124.
  9. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, S. 60.
  10. Rowlands, Mark, Contractarianism and Animal Rights, in: Journal of Applied Philosophy, Bd. 14, Nr. 3, 1997, S. 235-247, hier S. 237.
  11. Garner, Robert, A Theory of Justice for Animals, S. 9f.
  12. Rowlands, Contractarianism and Animal Rights, S. 237., Rowlands, Mark, Animal Rights. Moral Theory and Practice, Hampshire 2009, S. 148.
  13. Rowlands, Contractarianism and Animal Rights, S. 239f.
  14. Ebd., S. 241.
  15. Ebd., S. 242f.
  16. Ebd., S. 245.
  17. In dieser Arbeit wird vor allem David Svolba stellvertretend als Kritiker von Rowlands Theorie aufgeführt, weil er direkt auf Rowlands Aufsatz geantwortet hat. Es gibt aber weitere Philosophen, die einer Erweiterung der abstrahierbaren Eigenschaften auf Spezies und Rationalität in demselben oder ähnlichem Sinne sehr skeptisch gegenüberstehen: Als weiteres wird später noch Peter Carruthers und Robert Garner aufgeführt, siehe aber z.B. auch: Baxter, Brian, A Theory of Ecological Justice, Routledge 2005, S. 68f.
  18. Svolba, David, Is there a Rawlsian Argument for Animal Rights?, in: Ethical Theory and Moral Practice, Bd. 19, Nr. 4, 2016, S. 973-984, hier S. 979. Svolba bezieht sich bei der Erklärung von RT vor allem auf: Hart, H.L.A, Are There Any Natural Rights?, in: Philosophical Review, Bd. 64, Nr. 2, 1955, S. 175-191, hier S. S. 186, S. 190f.
  19. Rawls, John, Legal Obligation and the Duty of Fair Play, in: Hook, Sidney, Law and Philosophy, New York 1964, S. 3 – 35, hier S. 9f.
  20. Svolba, Is there a Rawlsian Argument for Animal Rights?, S. 980.
  21. Svolba, Is there a Rawlsian Argument for Animal Rights?, S. 977f.
  22. Ebd., S. 978.
  23. Garner, Robert, Animal Ethics, Cambridge 2005, S. 86f.
  24. Rowlands, Animal Rights, S. 162.
  25. Regan, The Case for Animal Rights, Berkeley/Los Angeles 2004, S. 151 – 156.
  26. Regan, The Case for Animal Rights, S. 128.
  27. Rawls, A Theory of Justice, S. 18.
  28. Mills, Charles, The Racial Contract, New York 1997.
  29. Svolba, Is there a Rawlsian Argument for Animal Rights?, S. 981.
  30. Singer, Peter, Practical Ethics, Cambridge 20113, S. 94ff.
  31. Regan, Tom, The Case for Animal Rights, S. 243.
  32. Das Argument ist von Tom Regan abgeleitet, siehe Regan, Tom, An Examination and Defense of one Argument Concerning Animal Rights, in: Inquiry: An Interdisciplinary Journal of Philosophy, Bd. 22, Nr. 1 – 4, 1979, S. 189 – 219, hier S. 196f.
  33. Carruthers, Peter, Animal Mentality: Its Character, Extent, and Moral Significance, in: The Oxford Handbook of Animal Ethics, Oxford 2011, 373-406, hier S. 388f.
  34. Ebd., S. 389.
  35. Ebd., S. 391.
  36. Ebd.
  37. Bauer, Nathan, Svolba, David, Justice at the Margins: The Social Contract and the Challenge of Marginal Cases, in: The Southern Journal of Philosophy, Bd. 55, Nr. 1, 2017, S. 51 – 66, hier S. 58. Dieser Text wurde von Svolba und Nathan Bauer verfasst, der Einfachheit halber werde ich im Folgenden aber nur Svolba nennen, wenn ich auf den Text referiere.
  38. Pluhar hat dafür argumentiert, dass die meisten Potentialitätsargumente nicht erklären können, weshalb von Geburt an geistig Schwerbehinderte moralischen Status erhalten sollten: Pluhar, Beyond Prejudice, S. 146f.
  39. VanDeVeer, Donald, Of Beasts, Persons and the Original Position, in: The Monist, Bd. 62, Nr. 3, 1979, S. 368- 377, hier S. 372f.
  40. Svolba, Is there a Rawlsian Argument for Animal Rights?, S. 983.
  41. Rowlands, Contractarianism and Animal Rights, S. 238f.
  42. Rowlands, Animal Rights, S. 163 – 165.