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Massentierhaltungsinitiative - eine kritische Auseinandersetzung

Lara Biehl, 25.01.2024

Im September stimmt das Schweizer Stimmvolk über die Massentierhaltungsinitiative (MTI) ab. Laut Initiativtext ist das Ziel, «die in der Verfassung verankerte Würde des Tieres in der landwirtschaftlichen Tierhaltung zu respektieren.»1 Der nachfolgende Beitrag diskutiert zwei problematische Aspekte der Initiative. Erstens bezieht sich der Begriff der Massentierhaltung nicht auf eine fixierte Menge; weder Bund noch das Initiativkomitee legen eine konsistente Definition vor, was das gemeinsame Verständnis des Initiativtexts erschwert und die Umsetzung der Forderungen blockieren könnte. Zweitens ist die MTI eine dem Tierschutz verschriebene («welfaristische») Initiative, die lediglich die Lebensbedingungen nicht-menschlicher Tiere im speziesistischen Produktionssystem verbessern will.

«Massentierhaltung» – ein Begriff ohne Substanz?

a.) Versuch einer allgemeinen Definition und Abgrenzung zu verwandten Begriffen

Der Begriff «Massentierhaltung» referiert auf eine moderne und technisierte Form der Nutztierhaltung. In der Regel wird eine grosse Anzahl nicht-menschlicher Tiere auf engem Raum gehalten, um die Produktion von Fleisch, Milch, Pelz, Eiern usw. so effizient wie möglich zu steigern. Es gibt keine deckungsgleiche englische Übersetzung für den Begriff «Massentierhaltung». In der englischen Sprache wird das Wort «Factory Farming» («industrielle» oder «intensive Nutztierhaltung») genutzt, um auf den eben beschriebenen Zustand zu verweisen. Wie der Begriff «Massentierhaltung», bezeichnet auch «Factory Farming» ein Produktionssystem, das die möglichst gewinnbringende Ausbeutung nicht-menschlicher Tiere anstrebt. Der Begriff «intensive Nutztierhaltung» kann breiter gefasst werden als der Begriff «Massentierhaltung», der üblicherweise an die industrielle Tierhaltung in Grossbetrieben gekoppelt ist. Auch kleine Betriebe können nicht-menschliche Tiere intensiv nutzen. Dieser Unterschied wird in der nachfolgenden Diskussion wichtig.

b.) Definition gemäss Massentierhaltungsinitiative

Der zweite Artikel des Initiativtexts definiert den Begriff Massentierhaltung:

«Massentierhaltung bezeichnet die industrielle Tierhaltung zur möglichst effizienten Gewinnung tierischer Erzeugnisse, bei der das Tierwohl systematisch verletzt wird.»2

Artikel 2 nimmt Bezug auf das bereits erklärte Konzept der «industriellen Tierhaltung». Laut Initiativtext besteht die Verletzung des Tierwohls in restriktiven Platzverhältnissen, der Verhinderung von artgerechten sozialen Interaktionen und der Verweigerung von Auslauf im Freien.

Die Forderung der MTI ist die Ausweitung der Platzverhältnisse in Ställen nach den Bio-Suisse-Vorgaben.

Für ein Schwein, das 110kg wiegt, hätte das folgende Veränderung zur Folge:

Mindeststandard nach konventioneller Tierhaltung: 0.9m²
Mindeststandards nach Annahme der Initiative: 1.65m² (inkl. Aussenbereich)

Konventionelle Tierhaltung (Mindeststandards): Konventionelle Tierhaltung bezeichnet die Haltung von nicht-menschlichen Tieren gemäss den gesetzlichen Mindeststandards.3 Die meisten Betriebe, die als Massentierhaltungsbetriebe gekennzeichnet werden, richten sich nach konventionellen Vorgaben.

Artikel 2 deutet an, dass es eine untergeordnete Rolle spielt, wie viele nicht-menschliche Tiere sich insgesamt in einem Betrieb aufhalten. Beurteilt wird die Verletzung des Tierwohls anhand einschränkender Lebensverhältnisse, die ein artgerechtes Leben verunmöglichen. In einer konventionellen Schweinemast, zum Beispiel, können bis zu 1'500 Schweine leben. Die Schweine halten sich aber nicht alle auf einer Fläche auf. Ihre Lebensbereiche sind in Buchten aufgeteilt. Pro Bucht leben die Schweine nach den gesetzlichen Mindeststandards, was 0.9m² pro Schwein entspricht. Eine nach konventionellen Standards ausgerichtete Bucht kann von einem Grossbetrieb sowie von einem kleinen Betrieb umgesetzt werden. Ob 1'500 Schweine in einem Stall leben oder bloss 100 wirkt sich nicht zwingend auf die Platzverhältnisse innerhalb der Buchten aus.

Wenn die MTI die Optimierung der Lebensverhältnisse, die dem Mindeststandard unterliegen, im Sinn hat, dann hätte dies die Optimierung der konventionellen Tierhaltung als solche zur Folge.

Das ist aber nicht, was die Initiative fordert. Die Initiant*innen geben an, dass nur 5% aller Betriebe – allem voran «industrielle Grossbetriebe» – von den neuen Massnahmen betroffen wären:

«Gemäss Bundesrat wären nur rund 5 % der landwirtschaftlichen Betriebe von der Initiative betroffen. Dazu gehören vor allem die grossen, fabrikähnlichen Mastbetriebe, die bis zu 27’000 Hühner, 1’500 Schweine oder 300 Rinder in einem Stall halten.»4

An einer anderen Stelle steht:

«Gemäss Regulierungsfolgenabschätzung des Bundesrates wären etwa 3’000 Betriebe von der Initiative betroffen. Das sind nur rund 5% aller Betriebe, die Tierprodukte produzieren.»5

Dies hätte keine Verbesserung der konventionellen Tierhaltung per se zur Folge, sondern würde nur Grossbetriebe betreffen, die die im Zitat erwähnte Gesamtmasse an nicht-menschlichen Tieren fassen. Das bedeutet weiter, dass bei der Annahme der Initiative lediglich 5% aller praktizierenden Betriebe ihre Standards ausbauen müssten. Es richten sich aber viel mehr Betriebe nach konventionellen Standards.

Absatz 2, welcher die systematische Verletzung der Tierwürde in der industriellen Tierhaltung identifiziert, steht im Konflikt mit der Aussage, dass lediglich 5% der Betriebe sich der nicht-artgerechten Tierhaltung schuldig machen. Der Prozentsatz aller Betriebe, die nicht-menschliche Tiere gemäss dem gesetzlichen Minimum halten, ist viel höher als 5%. Nachfolgend ist die Anzahl konventioneller Betriebe im Vergleich zu der Anzahl Bio-Betriebe im 2021 in der Schweiz aufgelistet:

Tabelle konventionelle vs. Bio-Betriebe Quelle: Bundesamt für Statistik6

Was bedeutet das für die Umsetzung der Initiative? Wenn der Begriff der Massentierhaltung an die Grösse des Betriebs gekoppelt ist, (= circa 27’000 Hühner, 1’500 Schweine oder 300 Rinder) gilt die Revision der Haltungsbedingungen nicht für kleinere bis mittlere Betriebe. Obwohl die nicht-menschlichen Tieren in kleineren Betrieben zahlenmässig insgesamt nicht «in Massen» gehalten werden, herrschen dieselben restriktiven Platzverhältnisse wie bei Grossbetrieben (z.B. 0.9m² Lauf- und Liegefreiheit pro Schwein pro Bucht). Im Falle der Betriebe, die Schweine halten, machen konventionelle Betriebe beispielsweise fast 91% aus (5'515 im Gegensatz zu 516 Bio-Betrieben).

«Bis zu 27’000 Tiere dürfen in der Schweiz in einer Halle gehalten werden. 27’000 Individuen sind eindeutig eine «Masse». Viele Tiere leben in kargen, engen Ställen und haben kaum oder gar keinen Auslauf.»5

Karge, enge Stallverhältnisse sind aber keine Eigenheit der Grossbetriebe.

Die MTI bekennt sich jedoch auch nicht zu der Schlussfolgerung, dass nur Grossbetriebe ihre Bedingungen anpassen müssen, sondern verspricht, die «unwürdigen» Lebensverhältnisse aller nicht-menschlichen Tiere auf die Bio-Standards zu heben:

«Mit der Anhebung der Mindestanforderungen in der landwirtschaftlichen Tierhaltung soll sichergestellt werden, dass die Lebensqualität aller Tiere erhöht wird. Schweine und Kühe stehen, falls sie raus dürfen, häufig lediglich auf Beton.»5

Wie bereits betont, steht diese Forderung aber in Konflikt mit der Aussage, dass nur 5% der Ställe betroffen sind.

Ein weiteres Problem besteht in der Auslegung der Initiative. Gemäss Initiativtext sind die geplanten Massnahmen zur Abschaffung der Massentierhaltung die Adaption der Bio-Suisse-Richtlinien in den Grossbetrieben. Dies suggeriert aber ein falsches Bild von Massentierhaltung, sofern Massentierhaltung mit der Bestandesgrösse assoziiert wird. Auch Bio-Höfe dürfen nicht-menschliche Tiere in Massen halten (die Höchstgrenze ist bei Hühnern je nach Alter 4'000 - 8'000). Bio-Standards garantieren keine massentierhaltungsfreie Haltungsbedingungen (Der VgT hat die Bio-Massentierhaltung mit Bildmaterial dokumentiert).8 Ausserdem regelt Bio-Suisse die Höchstgrenze nur bei Hühnern – alle anderen Tierarten unterstehen keiner Bio-Höchstbestandsregelung. Die Höchstbestandesverordnung - der Gesetzestext, der alle Höchstbestande vorgibt - gilt somit weiterhin für die anderen Tierarten. Bei Annahme der Initiative würde sich somit nur die Anzahl nicht-menschlicher Tiere pro Halle in der Hühnerhaltung reduzieren.7

Fazit: Durch die unklare Verwendung der Begriffe «Massentierhaltung» und «industrielle/intensive Nutztierhaltung» könnten die Forderungen der MTI überflüssig werden. Erstens wären nur 5% der Betriebe – sogenannte «Grossbetriebe» – betroffen, was zu einer willkürlichen «Verbesserung» der Platzverhältnisse nicht-menschlicher Tiere führt, da kleinere bis mittlere Betriebe von der Regelung ausgenommen sind. Zweitens würde die Annahme der Initiative die inkorrekte Auffassung fördern, dass Massentierhaltung bei Bio-Betrieben nicht vorkommt.

c.) Definition Massentierhaltung: Bund

Die unklare Terminologie um den Begriff «Massentierhaltung» rührt auch daher, dass sich der Bund einer einheitlichen Definition und Verwendung des Begriffs verweigert. Gemäss INFORAMA (Amt für Landwirtschaft und Natur) verfügt die Schweizerische Bundesverwaltung über keine Kriterien, wann ein Betrieb als «Massentierhaltungsbetrieb» klassifiziert werden kann – was auch nicht nötig sei, da es dieses Phänomen in der Schweiz nicht gäbe:

«Insbesondere der Begriff Massentierhaltung ist oft geprägt von subjektiver Wahrnehmung. In der Schweiz werden fast alle Landwirtschaftsbetriebe von bäuerlichen Familien geführt. Industrielle Betriebe, wie sie im Ausland oft vorkommen, kennen wir im Inland nicht. Die schweizerische Höchsttierbestandsverordnung limitiert zudem die maximale Anzahl Tiere pro Betrieb. In der Schweiz kennen wir somit keine Massentierhaltung.» - INFORAMA; aus einem Mailverkehr zwischen mir und dem INFORAMA

Die Aussage des INFORAMA ist irreführend. Erstens ist es irrelevant, ob ein Betrieb ein Familienbetrieb ist, wenn danach gefragt wird, ob dieser Betrieb in Massen nicht-menschliche Tiere hält. Zweitens stimmmt es nicht, dass es in der Schweiz keine mit dem Ausland vergleichbaren industriellen Betriebe gäbe. Betriebe, die nach konventionellen Standards produzieren, agieren industriell bzw. intensiv. Auch in der Schweiz wird der Produktionsdruck auf nicht-menschlichen Tiere abgewälzt (minimale Platzverhältnisse, genetische Veränderung, intensive Mast, etc.) und gerade in der Hühnerhaltung leben die meisten Hühner in Grossbetrieben.9 Gemäss der Höchstbestandesverordnung sind bis zu 27’000 Mastpoulets bis zum 28. Masttag in einer Stallanlage erlaubt.10 Industrielle Betriebe, «wie wir sie vom Ausland kennen», sind somit durchaus auch in der Schweiz zu finden:

Schweinemast Schweiz Links: Betrieb in der Schweiz. Schweinemast ohne Auslauf. Platzverhältnisse gemäss Mindeststandard. Kleiner Betrieb mit circa 40 Mastschweinen. Rechts: Betrieb in der Schweiz. Vormast. Mittlerer Betrieb mit circa 200 - 300 Jungschweinen.

Hühnermast Schweiz Hühnermast in der Schweiz. Haltungsrichtlinien gemäss BTS und RAUS.

Die Bilder stammen aus Schweizer Höfen. Die Beurteilung, ob darin «Massentierhaltung» zu sehen ist, sei den Betrachtenden selbst überlassen.

Die Bundesverwaltung entzieht sich mit ihrer Haltung der Verantwortung. Sie schafft ein verzerrtes Bild der schweizerischen Landwirtschaft, die durchaus mit den Bestimmungen umliegender Länder vergleichbar ist: wie bereits erwähnt, besteht der minimale Platzbedarf bei einem 110kg schweren Schwein in der Schweiz bei 0.90m², in Deutschland beträgt dieser Minimalanspruch 0.75m². Ein Masthuhn bekommt in der Schweiz die Mindestfläche von 0.14m² zugesprochen, in Deutschland sind es 0.11m².11

Ein weiterer interessanter Punkt ist, dass das INFORAMA auf eine spezielle Masseinheit zur Bemessung von Tierbeständen verweist, um zu zeigen, dass es in der Schweiz keine Massentierhaltung gibt:

«Nutztierbestände werden in sogenannten Grossvieheinheiten (GVE) gemessen. Eine GVE entspricht einer Kuh oder 6 Schweinen. Beim Geflügel erreichen 100 Legehennen oder 250 Masthühner eine GVE. Ein Bauer mit 16 Kühen muss im heutigen wirtschaftlichen Umfeld als Kleinbauer betrachtet werden. Gemäss GVE-Umrechnung entspricht ein Masthühnerbestand von 4‘000 Tieren einem Tierbestand von 16 Kühen. Gewisse Bevölkerungsgruppen reagieren aufgrund subjektiver Wahrnehmung leider sensibel auf 1’000er Tier-Zahlen, ohne sich ein Bild über die effektive Haltungsform zu verschaffen.» - INFORAMA; aus einem Mailverkehr zwischen mir und dem INFORAMA

Doch die Bemessung der Tierbestände anhand der GVE führt zu abstrusen Schlussfolgerungen bezüglich der Klassifizierung von Betrieben in «Massentierhaltungsbetriebe» oder «familiäre Kleinbetriebe». Wenn in einem Mastbetrieb 12'000 Hühner gehalten werden, handelt es sich gemäss INFORAMA nicht um Massentierhaltung, da dies nur 48 Kühen entspricht. Da ein Betrieb, der 48 Kühe hält, kein Massentierhaltungsbetrieb ist, ist auch der 12’000-Hühner-Betrieb keiner. Die GVE kann aber, wie das INFORAMA richtig bemerkt hat, nicht als Referenzeinheit dienen, wenn es darum geht zu kategorisieren, was Massentierhaltung ist, weil keine anerkannte Grenze besteht, ab wie viel GVE ein Betrieb sich der Massentierhaltung schuldig macht.

Die Verwaltung definiert die gesetzlichen Höchsbtestände als mit dem Tierwohl vereinbar und schliesst daraufhin, dass es keine Massentierhaltung in der Schweiz geben kann. Da die Höchstbestände im Ausland grösser sind, existiert Massentierhaltung dort. Das ist kein überzeugendes Argument. Der Bund verfügt über kein einschlägiges Kriterium, das die Schweiz vom Ausland trennt, denn die Abgrenzung fällt auf eine willkürliche Zahl zurück (z.B. 27'000 Hühner in einer Halle), die nur wenig Aussagekraft hat, wenn man bedenkt, dass die Platzverhältnisse innerhalb der Betriebe im Ausland sich nur minim unterscheiden.

Die Argumentationslinie: «Unser System ist tierfreundlich, genau darum, weil das Schweizer Tierschutzgesetz es als tierfreundlich definiert» ist logisch zirkulär und würde nie progressiven Wandel zulassen.

Fazit: Ob die Initiative angenommen wird oder nicht: In beiden Fällen wird der Bevölkerung ein falsches Bild über die Zustände in Schweizer Betrieben vermittelt. Wenn die MTI angenommen wird, haben die Konsument*innen den Eindruck, dass es in der Schweiz keine Massentierhaltung mehr gibt – obwohl diese weiterhin bestehen bleibt. Dadurch, dass der Bundesrat von der Initiative abrät, impliziert er, dass die Initiative ein Problem angehen will, das gar nicht existiert. Wenn die Initiative folglich abgelehnt wird, wird der breiten Bevölkerung vermittelt, dass industrielle Tierhaltung in der Schweiz ein Mythos ist und es keinen Handlungsbedarf gibt, den Umgang mit nicht-menschlichen Tieren zu revidieren.

Ist die Massentierhaltungsinitiative progressiv? Eine anti-speziesistische Antwort

a.) Die Massentierhaltungsinitiative ist speziesisitisch.

Die MTI ist eine speziesisitsche Initiative. Sie verschreibt sich nicht der Beendigung des Speziesismus, sondern fordert die Verbesserung der Produktionsumstände mit dem Ziel, einen ethischen Fleischkonsum zu etablieren.

Das tierschützerische Anliegen der MTI besteht in der Abschaffung der Massentierhaltung, da diese als systematische Verletzung des Tierwohls interpretiert wird. Diese Behauptung hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. Sie impliziert, dass «Tierwohl» ein pragmatischer Begriff ist, der sich nicht am tatsächlichen Wohle nicht-menschlicher Tiere orientiert, sondern einer kapitalistischen Logik folgt. «Tierwohl» wird immer im Verhältnis zu Produktion gestellt – dass die Produktion selbst dem Tierwohl schadet, ist nicht Gegenstand der tierschützerischen Debatte. Die Begriffe «Tierwohl» sowie «Tierwürde» passen sich im Tierschutz ökonomischen Tatsachen an; der Tierschutz vertritt eine Kompromiss-Haltung, die neoliberale Interessen mit dem Minimum an «zumutbarer» Haltung und Ausbeutung vereinen soll. Die Grundhaltung des Welfarismus ist, dass die Nutzung nicht-menschlicher Tiere moralisch legitim ist, sofern das Leiden der nicht-menschlichen Tiere reduziert wird.

Auch hier besteht die Gefahr einer ungenügenden Argumentation, da das Leiden der nicht-menschlichen Tiere nicht vollständig verhindert, sondern nur bis zu einem bestimmten Kompromiss-Punkt reduziert werden soll. Die Devise lautet dann: «alle Haltungsbestimmungen, die in die Kompromiss-Situation passen, gelten als tierfreundlich», ganz egal, ob die nicht-menschlichen Tiere immer noch ein Leben voller Leid und einen gewaltvollen, frühzeitigen Tod durchstehen müssen.

Der anti-speziesisitsiche Vorwurf an der welfaristischen Position ist nun, dass die Interessen nicht-menschlicher Tiere geringer gewertet werden als wirtschaftliche Profitinteressen und Konsumwünsche der breiten Masse. Dass nicht-menschliche Tiere ein Interesse daran haben, nicht getötet zu werden, ist im welfaristischen Framework irrelevant, da das Interesse von Menschen, nicht-menschliche Tiere als Nahrungsmittel zu gebrauchen, immer mehr gewichtet wird.

Um zurück zu der MTI zu kommen: Massentierhaltungsanlagen sind nicht das Hauptproblem, das dringenden Revisionsbedarf aufweist. Sie sind viel mehr ein Symptom speziesistischer Institutionen. Die industrielle Nutztierhaltung ist die Folge eines Wertesystems, das fühlende Lebewesen auf Waren reduziert. Dieses Problem besteht auch weiterhin in kleineren oder Bio-Betrieben. Beide anerkennen nicht-menschliche Tiere nicht als schützenswerte moralische Subjekte. Beide machen ihren Wert von Interessen anderer Lebewesen abhängig. Fortschritte im Tierschutz dienen in erster Linien den Produzent*innen und der Konsumgesellschaft - und nicht den Interessen nicht-menschlicher Tiere.

Ein Einwand gegen diese Art der Kritik könnte sein, dass es sich dabei um einen Fall von «Vegan Purism» handelt – die Haltung, dass der Speziesismus in seiner Gesamtheit immer und konsequent abgelehnt werden muss, egal, in was für sozialen und kulturellen Kontexten wir uns befinden. So könnte man sagen, dass die MTI keine anti-speziesistische Initiative ist, aber den Diskurs um die Beachtung der Interessen nicht-menschlicher Tiere fördert oder ein Schritt in Richtung Dekonstruktion speziesistischer Praktiken darstellt. Ich denke, dass dem nicht so ist und die MTI sogar nachteilige Konsequenzen für anti-speziesisitsche Anliegen mit sich zieht:

b.) Ein Fall von «Verschlimmbessern»? Warum die MTI schädlich für die Befreiung nicht-menschlicher Tiere ist

Die Annahme der MTI würde offiziell bestätigen, dass es in der Schweiz keine Massentierhaltung mehr gibt, was, wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, faktisch falsch wäre. Dies würde erschwerende Umstände für den angehenden Befreiungskampf nicht-menschlicher Tiere schaffen.

  • Konsument*innen wären weniger gewillt, sich zukünftig über die Ausbeutung nicht-menschlicher Tiere in der Schweiz Gedanken zu machen. «Feelgood»-Konsum führt zu einer geringeren Bereitschaft, sich mit den Lebensmitteln, die konsumiert werden, auseinanderzusetzen.

  • Landwirt*innen erhalten noch effektivere Mittel, sich von Verantwortung abzusprechen und ihre Produkte als «massentierhaltungsfrei» zu bewerben. Die Fleischlobby könnte nach Annahme der MTI behaupten, dass in der Schweiz per Gesetz keine Massentierhaltung möglich sei. Dies ist aber problematisch, wenn man bedenkt, dass Massentierhaltung oft fälschlicherweise mit industrieller bzw. konventioneller Nutztierhaltung gleichgesetzt wird. Auch wenn die Initiative angenommen würde, wären solche Zustände weiterhin gesetzlich erlaubt, denn Massentierhaltung kommt auch in Bio-Betrieben vor.

  • Wie Swissveg festgestellt hat, würde eine Annahme das Thema «Nutztierhaltung» für fast 30 Jahre blockieren, da die Initiative eine Übergangsfrist von 25 Jahren voraussieht. Gerade in Anbetracht der Klimakrise ist in Zukunft eine intensivere Auseinandersetzung mit der Schädlichkeit der Nutztierindustrie gefordert. Die Annahme der MTI könnte es neuen Vorstössen erschweren, politischen Erfolg zu erzielen.12

  • Damit verwandt ist der letzte Kritikpunkt: Es mangelt der Initiative an Anknüpfbarkeit. Die MTI behauptet, dass die Nutztierhaltung nach Umsetzung in einen artgerechten Zustand gebracht würde. Es kann nicht mit weiteren Revisionen daran angeknüpft werden. Ein gutes Beispiel für eine anknüpfbare Initiative ist das Importverbot von Pelz. Auch sie ist speziesistisch (da sie Pelz durch Jagd nicht verbietet), aber sie geht ein Schritt Richtung absolutes Verbot tierquälerischer Produkte. Die Annahme der Initiative hätte zur Folge, dass die Schweiz kein Absatzmarkt mehr für die Pelzindustrie darstellt. Sie sensibilisiert ausserdem die Bevölkerung dafür, dass Pelz ein tierquälerisches und unethisches Produkt ist, was mit grosser Wahrscheinlichkeit die Ablehnung jeglicher Pelzprodukte mit sich zieht. An ein Importverbot kann auch wieder angeknüpft werden, indem versucht wird, den Import anderer Produkte zu verbieten. Ein Importverbot von Pelz würde ausserdem zu einer erhöhten moralischen Kohärenz zwischen dem Gesetzgeber und seinen Gesetzen führen: Die Produktion von Pelz, so wie er importiert wird, gilt in der Schweiz als tierquälerisch und ist verboten. Der Gesetzgeber macht sich glaubwürdiger, wenn er ebenfalls den Import tierquälerischer Produkte verbietet. An die MTI – im Gegensatz – kann nur schwer wieder angeknüpft werden. Sobald sie umgesetzt ist, gilt die landwirtschaftliche Nutztierhaltung als tierfreundlich bzw. dem Tierwohl entsprechend. Die MTI trägt zudem nicht dazu bei, dass die Gesetzgebung kohärenter wird – im Gegenteil: Das Begriffschaos rund um den Begriff der «Massentierhaltung» führt zu einer Umsetzungsunsicherheit und der Gefahr, dass am Schluss keine Verbesserungen für nicht-menschliche Tiere auftreten, Landwirt*innen aber zusätzliche Mittel zugespielt werden, um Konsument*innen zu täuschen.

Aufgrund dieser Argumentation unterstützt The Animalist die MTI nicht aktiv.


  1. Massentierhaltungsinitiative, Die Tierwürde als Verfassungsprinzip, Art. 80a, Abs. 1, https://massentierhaltung.ch/initiative/initiativtext/
  2. Massentierhaltungsinitiative, Die Tierwürde als Verfassungsprinzip, Art. 80a, Abs. 2, https://massentierhaltung.ch/initiative/initiativtext/
  3. Biehl, Lara, Wie werden Tiere in der Schweiz gehalten? Die wichtigsten Fakten zur konventionellen Tierhaltung, in: The Animalist, 28.06.2020, https://the-animalist.ch/recherche/tierhaltung/konventionelle-tierhaltung
  4. Massentierhaltungsinitiative, Die industrielle Tierproduktion, https://massentierhaltung.ch/argumente/vier-gruende-fuer-ein-ja/
  5. Massentierhaltungsinitiative, Die häufigsten Argumente unserer Gegnerschaft, https://massentierhaltung.ch/argumente/gegenargumente/
  6. Bundesamt für Statistik, Beschäftigte, Landwirtschaftliche Betriebe, Landwirtschaftliche Nutzfläche (LN) und Nutztiere auf Klassifizierungsebene 1 nach institutionellen Gliederungen, STAT-TAB – interaktive Tabellen, https://www.pxweb.bfs.admin.ch/pxweb/de/px-x-0702000000_104/px-x-0702000000_104/px-x-0702000000_104.px
  7. Bio-Suisse Richtlinien, 01.01.2020, S. 146, https://partner.bio-suisse.ch/media/VundH/Regelwerk/2020/DE/bio_suisse_richtlinien_2020_d_t_ii.pdf
  8. Höchstbestandesverordnung, HBV, https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2013/727/de
  9. Basic, Igor, Ist die Schweiz wirklich ein Hühnerparadies?, in: SRF, 30.10.2020, https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/wochenende-gesellschaft/artgerechte-haltung-ist-die-schweiz-wirklich-ein-huehnerparadies
  10. Höchstbestandesverordnung, HBV, Art. 2., Höchstbestände, https://fedlex.data.admin.ch/filestore/fedlex.data.admin.ch/eli/cc/2013/727/20160101/de/pdf-a/fedlex-data-admin-ch-eli-cc-2013-727-20160101-de-pdf-a.pdf
  11. Referenz Schweiz: Fachinformation Tierschutz, Mindestmasse für die Haltung von Schweinen, Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV, https://www.blv.admin.ch/dam/blv/de/dokumente/tiere/nutztierhaltung/schweine/fachinformationen-schwein/fi-schwein-mindestmasse.pdf.download.pdf/1_(2)_d_FI_Schwein_Mindestmasse.pdf, Referenz Deutschland: Bundesamt für Justiz, Verordnung zum Schutz landwirtschaftlicher Nutztiere und anderer zur Erzeugung tierischer Produkte gehaltener Tiere bei ihrer Haltung (Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung - TierSchNutztV), § 29 Besondere Anforderungen an das Halten von Zuchtläufern und Mastschweinen, https://www.gesetze-im-internet.de/tierschnutztv/BJNR275800001.html
  12. Swissveg, Stellungnahme zur Massentierhaltungsinitiative, https://www.swissveg.ch/massentierhaltungsinitiative?language=de